Der Nikolausstiefel explodierte.
Maria stoben Buchstaben wie Funken vor Augen, sie kniff die Lider zusammen, knallte die Wohnungstür zu, sprang zurück und presste ihren Rücken gegen die Wand ihres Flures.
Im Geiste sah sie um sich herum allüberall geschmolzene Schokolade an den sonnengelben Tapeten kleben, die in dicken, schmierigen Bahnen auf den kunstrasengrünen Teppich tropfte und fand sich innerlich bereits damit ab, zwei Tage lang den Flur zu schrubben sowie neu zu streichen. Alleinerziehende waren Kummer dieser Art ja gewohnt.
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Sinterklaas, der niederländische Nikolaus, spürte den Knall. Sein Schimmel galoppierte gerade mit ihm am Nachthimmel entlang der deutsch-niederländischen Grenze Richtung Hafen. Er blickte rüber nach Deutschland, erahnte in der Ferne Buchstabenfunken über der Hansestadt Bremen und wusste sofort, was passiert war. Verflixt, das war es mit dem Feierabend, mit der Rückkehr auf sein Boot und nach Spanien. Dieses Kind lag ihm besonders am Herzen.
Natürlich sollten die Nikoläuse aller Länder keine Lieblingskinder haben, aber mal ehrlich, niemand ist ganz frei von klitzekleinen Vorlieben, auch ein Heiliger nicht. Marias Tochter Tomke gehörte zwar schon seit ihrem zweiten Geburtstag nicht mehr in seinen, sondern in den Bereich des deutschen Nikolauses, aber der musste heute Nacht ja schwer arbeiten. Er selbst war dagegen traditionell am fünften Dezember fertig und konnte sich nun kurz vor Mitternacht um das Problem kümmern.
Der Flug würde allerdings etwas dauern, vermutlich eine halbe Geschichte lang, denn sein Pferd war nach dem Sinterklaasdag logischerweise etwas müde.
Sanft drückte er dem erstaunten Schimmel einen Schenkel in die Seite, der schlug brav einen Bogen um zwei Sterne und nahm Kurs auf Bremen.
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Entschlossen, dem Schokoladendrama mutig entgegenzutreten, öffnete Maria im Nu die Augen wieder und stellte fest, dass die Tapeten sauber waren. Okay, bis auf die üblichen Grauschleier und Abdrücke von Kinderhänden in verschiedener Höhe und Größe, Spuren des Wachstums ihrer Tochter und ihrer mangelnden Zeit, die Wohnung zu renovieren.
Auf dem Boden lagen zwar verstreute Schokoladenkugeln, Kekse, Mandarinen und Nüsse, aber überwiegend unversehrt in glitzernder Verpackung beziehungsweise Schalen. Nur bei dem großen Schokoweihnachtsmann hing das Köpfchen verdächtig schief, der Sturz hatte ihm vermutlich das Genick gebrochen.
All diese Naschereien kannte Maria, sie hatten sich auf dem Nikolausteller befunden, den sie soeben vor die Tür stellen wollte. Hätte da nicht schon der fremde Stiefel gestanden.
Nun wäre eine nicht von ihr stammende Nikolausüberraschung auf der Schwelle nichts, was sie so erschrecken könnte, dass sie ihren eigenen Teller fallen lassen und Türen knallen würde. Es kam durchaus alljährlich vor, dass die nette ältere Nachbarin aus dem zweiten Stock die Gaben für Marias Tochter dort ergänzte, mal vor, mal nach ihr selbst. Allerdings waren die zuvor nie explodiert.
Also, wo kam der fremde Stiefel vor der Tür her? Und vor allem, warum verhielt er sich aggressiver, als Nikolausstiefel sich verhalten sollten?
Zögernd löste sie ihren Rücken von der sicheren Wand, drückte mit zitternden Fingern den Türgriff herunter und lugte durch einen kleinen Spalt hinaus ins Treppenhaus.
Der klägliche Stumpf eines riesigen, zuvor vermutlich hübschen, roten Nikolausstiefels rauchte auf der Fußmatte vor sich hin, um ihn herum lagen Fetzen von rotem Leder und weißem Fell. Aber es roch keineswegs nach verbrannter Schokolade oder gerösteten Mandeln, sondern nach schmorenden Kabeln.
Kurzschluss in einem Stiefel?
Todesmutig öffnete sie die Tür komplett und beugte sich über das im Moment recht friedlich vor sich hinqualmende Objekt. Der feine Rauch, der aus dem nun eher einem Halbschuh ähnelnden Teil quoll, bestand nicht aus diffusen Teilchen, sondern aus winzigen Worten.
Ein dünner grauer Faden dieser Wörter zog an Maria vorbei in den Lichtschalter neben der Wohnungstür. Das Licht ging aus und der Schalter sagte: »Klatsch in die Hände!«
Verdattert gehorchte Maria, die Flurlampe leuchtete wieder.
Weitere Wortrauchfäden waberten in die offene Küche, in die Kaffeemaschine, den Herd, den Toaster.
»Du musst nichts mehr selbst machen«, blubberte die Kaffeemaschine und startete den Brühvorgang.
»Wir tun und lenken alles für dich, auch das Fitnessstudio, in dem du mehr oder weniger erfolgreich versuchen wirst, die Bewegungslosigkeit auszugleichen, die unsere Technik dir zur Entlastung schenkt«, ergänzte der Herd.
Auf dem bisher altmodischen Toaster leuchtete eine digitale Schrift: »Kaffeeduft erkannt, Frühstückstoast wird erstellt. Bitte warten.« Dahinter erschien ein sekundenzählender Countdown.
»Hallo? Es ist mitten in der Nacht!«, empörte sich Maria.
Von laufender Kaffeemaschine und Toaster erzeugte Wasserdampfwölkchen zogen zum Fensterrahmen.
»Luftfeuchtigkeit über 70 Prozent«, meldete das Fenster und öffnete sich selbst sperrangelweit. Marias Mund tat dasselbe.
Neben ihr krabbelten Rauchworte in die Schultasche, die Tomke ausnahmsweise vorbildlich fertig gepackt auf der Flurtruhe abgestellt hatte, um morgens genug Zeit für die Nikolausbescherung zu haben. Aus dem Augenwinkel erkannte Maria Buchstabenkombinationen, die Bücher und Mappen umhüllten und in Luft auflösten: »Google das doch«, »Frag Chat GPT«, »Bard weiß alles«, »Deine Bilder macht Midjourney«, »Gratis mit Stable Diffusion.«
»Nein! Stop!«, brüllte Maria und riss die wenigen noch nicht in Auflösung begriffenen Schulsachen panisch aus der Tasche.
»Das Kind soll selbst lernen! Selbst malen! Selbst denken!«
♦♦
Am Stadtrand von Bremen blickte ein junges Liebespaar eng umschlungen in den Nachthimmel. Sie hofften auf eine Sternschnuppe für ihre geheimsten Wünsche, doch was sie sahen, war ein Pferd. Sinterklaas verkniff sich einen Fluch. Da war er in seiner Eile doch etwas zu tief geflogen. Er konnte nur hoffen, dass die zwei aufgrund ihrer Sichtung keine fantasievolle Religion gründen würden, die neuen Streit und Kriege auf die Welt brächte.
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Siedendheiß erinnerte Maria sich, dass ihr Pubertier nur durch eine Tür geschützt im Bett nebenan lag, wegen dessen Schlafverhaltens sich die heimliche Vorbereitung des Nikolaustellers jährlich tiefer in die Nacht verschoben hatte. Endlich eingeschlafen, waren Jugendliche zwar kaum wieder aufzuwecken, aber ein explodierender Nikolausstiefel plus ihr entsetztes Geschrei war eventuell doch ein anderes Kaliber als Gewitter, Wecker oder eine geduldig zum Aufstehen mahnende Mutter.
Wie von ihren Gedanken gerufen, trat Tomke aus ihrem Jugendzimmer und sagte: »Sie wissen, dass wir sterben. Es ist ihnen egal. Sie verdienen daran, dass wir sterben.«
Maria erbleichte. »Was? Was redest du da, bist du wach?«
»Hab ich auf Insta gelesen«, antwortete Tomke. »Hat eine Zwölfjährige gesagt, die von Social-Media-Sucht in Depressionen und Selbstmordversuche getrieben wurde.«
Dabei glitt ihr Blick über das Chaos aus Schokoartikeln, Mandarinen, Schulmappen und Schulbüchern auf dem Flurteppich bis zu dem rauchenden Stiefelstumpf vor der Tür. »Was ist denn hier … oh Gott, hast du auch mein …«
Hektisch wühlte Tomke in ihrer Schultasche und zog erleichtert ihr Smartphone aus einem Seitenfach. »Puh. Ich dachte schon, du hättest das ebenso kaputtgeworfen, wie den da.« Sie wies auf den Schokoweihnachtsmann mit dem abgeknickten Kopf, dessen Beschädigung noch vor wenigen Jahren bittere Tränen verursacht hätte.
›Nomophobie‹, dachte Maria. ›Mein Kind leidet unter No-Mobile-Phone-Phobia.‹
»Das gibt geile Shots für Memes. Muss ich sofort posten.« Tomke wischte über ihr Display und fotografierte das Durcheinander auf dem Fußboden, den kaputten Weihnachtsmann, eine Schulbuchecke, die treffsicher eine Mandarine zerquetscht hatte, das entsetzte Gesicht ihrer Mutter und den rauchenden Stiefelrest vor der Tür.
»Das wird der Nikolaus-Tageshit bei Insta! Mama, stelze mal zwischen dem Rummel ein paar Schritte zur Küche, ich brauche Bewegung für ein Video, dann habe ich auch was für TikTok, ich sag dir, das geht viral!«
Das Licht ging aus.
»Ey, spinnst du? Du versaust mir die Aufnahme!«
»Das war ich nicht.« Maria, schnell lernfähig, klatschte in die Hände.
Der Lichtschalter meldete: »Unbefugter Zugriff. Bitte identifizieren sie sich.«
»Ich bin Maria«, sagte Maria und klatschte erneut. Es blieb dunkel.
»Seit wann redet der Lichtschalter?«, fragte Tomke.
»Seit der Rauch aus dem Stiefel da rein gezogen ist. Also die Wörter, die wie Rauch aussehen. Hat, vermute ich inzwischen, irgendwas mit Wort-Wahrscheinlichkeit und Befehlen zu tun.« Maria tastete an der Wand nach dem Kippschalter und klickte ihn mehrfach hin und her. Es blieb dunkel.
»Ach so. Mama, du raffst das nicht, du bist so Achtziger«, schimpfte Tomke und ratterte routiniert Marias Vor- und Nachnamen, Geburtsdatum, Adresse, Bankkontonummer, SteuerID und Schuhgröße herunter.
»Identifikation erfolgt. Du bist ein Mensch. Klatsch in die Hände.«
Tomke klatschte. Das Licht ging an. Das Küchenfenster ging zu.
Maria kippelte weiter sinnlos am Schalter, es blieb hell. Der Stiefel rauchte, die Buchstaben krochen in alle Ecken und Ritzen der Wohnung. Tomke hüpfte auf der Schwelle herum und fotografierte den roten Schuh von allen Seiten. Der Mutter sackten die Arme resigniert an ihre Seite. »Was raffe ich nicht?«
»Zur Eingewöhnung ist Digitalisierung immer einfach. Oft auch gratis. Sie reden dir ein, es würde dein Leben verbessern und erleichtern, bis du nicht mehr ohne kannst. Dann musst du mit Daten bezahlen. Und wenn sie genug Daten haben, mit Geld. Das weiß doch jedes Kind.«
»Wenn du das schon weißt, warum machst du mit?«
»Da kann man nichts machen. KI ist die Zukunft.«
»Sagt wer?«
»Alle.«
»Ich nicht.«
»Ja, du bist eben voll Achtziger.«
»Mag sein. Aber weißt du was? In meiner Jugend sagten alle, fossile Energien sind die Zukunft. Und ich habe ihnen damals auch nicht geglaubt.«
»Das war ja auch Quatsch. Das weiß doch jeder.«
»Warum?«
»Haben wir in der Schule gelernt. Schon damals hat die Wissenschaft gewarnt und Klimamodelle veröffentlicht, die heute eintreffen. Leider sogar exakt die schlimmsten davon. Aber die Ölkonzerne leugneten alle Gefahren mit selbstfinanzierten Gegenstudien, werbewirksam verpackt und global verbreitet.«
»Ach.«
»Ja, im Grunde konntet ihr nichts dafür. Die Ölkonzerne wussten, dass viele sterben werden, aber sie verdienten daran. Gegen so viel Geld für Medienwirksamkeit hatte die Wahrheit keine Chance.«
»Merkste was?«
»Was?«
»Zum Beispiel, was du vorhin über die Zwölfjährige gesagt hast?«
»Little Taylor? Ja, die tut mir leid. Viel zu jung für Social Media. Aber ich bin ja schon vierzehn und kann damit umgehen. Hast du ja gesehen, mir gehorcht sogar der Lichtschalter. Ich hab alles digitale voll im Griff. Warum stinkt es hier nach verbranntem Toast?«
»Ach herrje!« Maria stürzte in die Küche und drückte den Abbruch-Knopf am Toaster, was den natürlich nicht interessierte. Statt Countdown blinkte eine null auf dessen glänzender Metallhülle, die bis vor der Stiefelexplosion kein Display gewesen war. Tomke rief geistesgegenwärtig Marias Vor- und Nachnamen, Adresse und Kontonummer Richtung Küche, an der Stelle unterbrach Maria sie: »Nicht mit mir!«, und zog den Stecker.
Welche von beiden Vorgehensweisen zum Erfolg führte, ist nicht abschließend zu klären, Glühdrähte und Display erloschen. Die kurze Überlegung, wie Maria den verkohlten Toast herausbekommen würde, sofern sie das Ding jemals wieder in Betrieb nehmen wollte, verschob die Mutter auf später und drehte am Fenstergriff.
»Es ist drei Komma zwei Grad unter Optimaltemperatur und die Luftfeuchtigkeit optimal. Lüften wäre kontraproduktiv«, widersprach das Fenster und blieb zu.
»Verdammt, die ganze Bude stinkt nach verbranntem Toast, geh auf, du blödes Fenster!«
»Ein Rauch- oder Duftsensor ist in meiner Konfiguration nicht enthalten. Sie können aber ein Upgrade erwerben. Rufen Sie einfach Alexa, um die nötige Hard- und Software bei Amazon zu bestellen.«
»Ich habe keine Alexa.«
»Dann kaufen Sie eine.«
»Ich will keine Alexa.«
»Dann ist Ihnen nicht zu helfen.«
»Mama, du diskutierst jetzt nicht ernsthaft mit einem Fenster, oder?« Tomke tippte beim Sprechen weiter auf ihrem Handy. Vermutlich postete sie die Fotos und Videos vom Nikolaus-Flurchaos auf Instagram und TikTok.
»Was bleibt mir anderes übrig? Den stummen Stiefelstumpf fragen?«
»Mach nicht so ein Drama. Bleibt das Fenster eben zu. Der Gestank zieht genauso gut ins Treppenhaus ab, die Tür ist ja noch offen. Und dann kauf halt endlich mal eine Alexa oder Siri.«
»Warum?«
»Weil Sprachassistenten die Zukunft sind. Keiner macht mehr was von Hand.«
»Sagt wer?«
»Mama, du wiederholst dich. Sagen alle.«
»Und weil alle es sagen, ist es richtig?«
Schlagartig stieg Tomke rote Wut ins Gesicht, sie schrie ihre Mutter an: »Du raffst es echt nicht. Dream on.«
Eine Weile schwiegen beide und mieden jeden Blickkontakt. Maria hob ihren Nikolausteller auf, sammelte planlos ein paar Naschereien ein, rieb Mandarinensaft mit dem Ärmel vom Schulbuch und schielte gelegentlich misstrauisch auf den Stiefelstumpf. Tomke lehnte im Durchgang zur Küche und wischte konzentriert auf ihrem Smartphone herum, kicherte gelegentlich, schüttelte den Kopf, tippte etwas, scrollte und plötzlich rollte eine Träne über ihre Wange.
♦♦
Der Schimmel des Sinterklaas landete im Vorgarten.
Sofort senkte das Tier den Kopf und biss herzhaft in leckeres, wenn auch etwas frostiges Erdengras. Herrlich. Das war doch etwas anderes als das ewig alte staubige Himmelsheu!
Sein Herr stieg ab und schlich ums Haus herum.
Er hoffte, noch rechtzeitig angekommen zu sein, um das Schlimmste zu verhindern, doch eingreifen konnte er noch nicht. Tomke war schon zu groß, um ihn, wie früher, ohne Schock zu Gesicht zu bekommen.
Sein Pferd würde selbst im Vorgarten niemand bemerken, das konnte er getrost glücklich weiden lassen, denn als Heiliger wusste er natürlich, dass Maria und Tomke sich fern des einzigen Vorgartenfensters aufhielten und außer den beiden die gesamte Nachbarschaft in tiefem Schlaf lag. Abgesehen davon, neigten Menschen dazu, sich Pferde selbst in der Stadt mit logischen Gründen zu erklären oder gänzlich zu ignorieren.
Er selbst aber versteckte sich mit Blick aufs Tomkes Zimmerfenster hinter einem Busch, um sofort zu sehen, wenn sie ihren Raum betrat.
Denn das würde sein Moment sein, den er um keinen Bruchteil einer Sekunde verpassen durfte.
♦♦
»Ob das Ding da rein passt?«, murmelte Maria und hielt einen Müllsack neben den Stiefel, wagte aber nicht, ihn anzufassen und einzutüten. Erst als Tomke laut schluchzte, merkte ihre Mutter, dass die jugendliche Wut in Verzweiflung umgeschlagen war. »Was ist passiert?«
»Die haten mich total!«
»Wer?«
»Alle!« Geschüttelt vom Weinen, hielt Tomke ihr das Handydisplay entgegen, doch das wackelte und spiegelte, Maria konnte darauf nichts lesen.
»Was schreiben die?«
»Der kaputte Stiefel wäre voll billiger Fake. Wie krank muss man sein, sich so was auszudenken. Wer keine Ahnung hat, wie man gute KI-Bilder generiert, sollte es lassen. In was für einem Saustall wir leben. Gutes Essen auf den Boden werfen, wie eklig. Ja, und noch dazwischen durchzulaufen, bäh. Was für ein Baby ich bin, Nikolausteller sind was für Kleinkinder. Passt zu den dreckigen kleinen Handabdrücken auf der Tapete. Na, was soll man erwarten, bei der hässlichsten Mutter, die sie je gesehen haben. Und was für abgelatschte Schuhe die trägt! Schulbücher mit Mandarinen verschmieren, klar, die Schulen haben ja zu viel Geld. Und so geht das immer weiter! Alles voller Wut und Ekel Emoijs. Kein einziges Herzchen. Ich bin erledigt!«
»Das sind fremde Leute, die dich nicht kennen und ihre Wut an jemand auslassen wollen.«
»Nein! Das waren meine Freunde! Meine Follower, ich brauche die!«
»Es ist nur ein Netzwerk. Die Webseite irgendeines Milliardärs. Du musst da nicht drin sein. Es gibt Millionen andere und bessere Webseiten.«
»Doch, muss ich. Alle sind da. Wer da nicht ist, ist allein. Ist out. Ist tot. Ich wünschte, TikTok wäre nie erfunden worden. Und Insta auch nicht!«
Maria nickte, denn das wünschte sie (sowie laut einer Umfrage die Hälfte der Generation Z) sich auch und sie hielt dies dummerweise für den richtigen Moment, ihrer Tochter eine belehrende Rede zu halten: »Es sind die Tech-Giganten, die bestimmen, wo man als nächster Hype drin sein ›muss‹. Die sind es auch, die sagen: ›KI ist die Zukunft.‹ Sie fluten uns mit Gratisangeboten und professionell designten Suchtanreizen. Und jeder junge Mensch auf Social Media plappert es nach: ›Juhu! Die Geschäftsziele von Meta, Alphabet, Apple, Microsoft, ByteDance und Amazon sind unsere Zukunft!‹
Genauso, wie zuvor die Geschäftsziele von Shell, BP, Total, Exxon Mobil, Saudi Aramco und Co. unsere Zukunft waren. Wir jubelten damals über das dickste Auto, das schnellste Motorrad, den am lautesten röhrenden Verbrennungsmotor. Du weißt, wohin das geführt hat. Nein, Algorithmen und KI sind nicht unsere selbstgewählte Zukunft, sondern ihre. Gelenkt von knallharten Geschäftsinteressen statt für das Wohl der Menschheit. Wir machen denselben Fehler wie in meiner Jugend.«
Tomkes Augen wurden zu Schlitzen und funkelten durch die Tränen hindurch. »Deine, deine, deine. Die war toll. Meine Jugend nicht!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in ihrem Zimmer. Maria wollte ihr folgen, weniger, um sie aufzuhalten, als um das obligatorische Türknallen abzufangen, doch sie verhedderte sich im Müllsack, stolperte über den Stiefel und stürzte langausgestreckt in den Flur. Ihre Nase landete im ohnehin schon geknickten Schokoweihnachtsmann. Sie verlor die Besinnung.
♦♦
Sinterklaas schritt würdevoll ins Treppenhaus, stieg mit festem Reiterstiefeltritt über den Stiefelstumpf und inspizierte das Durcheinander in Marias Wohnung.
Kopfschüttelnd räumte der Heilige die Situation auf, legte hinzu, was heute gebraucht wurde und stopfte in seinen Sack, was dort nicht hingehörte und Unfrieden stiftete. Zum Schluss fegte seine Hand fein säuberlich die Leder- und Fellfetzen von der Schwelle. Er würde mit dem deutschen Nikolaus ein ernstes Wort zu reden haben, insbesondere über blauäugige Kooperationen mit Lieferdiensten, die Digitalkonzernen gehörten.
Möglicherweise war dies sogar ein Fall für den Himmelsrat. Aber da auf dieser Seite der Grenze der Arbeitsnikolaustag des Kollegen gerade erst begann, musste das warten und am Ende blieb so oder so vermutlich doch alles den Eltern überlassen.
»Maria, Maria, das üben wir noch mal«, raunte er lächelnd, schwang sich auf sein Pferd und trabte auf einem bunt glitzernden Zeitstrahl über den Nachthimmel in den wohlverdienten Feierabend.
♦♦
Als Maria erwachte, den Kopf hob und betreten Schokoladenstückchen mit Silberfolie von ihrer Nase und aus ihren Haaren zupfte, war der Schokoweihnachtsmann endgültig hinüber und die Umgebung verändert.
Sie stand nicht im Flur auf, sondern im Wohnzimmer.
Auf dem Boden lagen zwar unverändert Naschereien, aber ordentlich in Verpackungen, die noch geöffnet und in den Teller sortiert werden wollten. Alles sah aus wie jedes Jahr, wenn sie gerade erst begann, die Nikolausüberraschung vorzubereiten und dafür den kompletten Einkauf zwecks Übersicht auf dem Wohnzimmerteppich ausbreitete.
Dies war ziemlich verwirrend.
Maria schlich in den Flur und öffnete die Wohnungstür nur einen winzigen Spalt. Da stand nichts auf der Schwelle. Nicht einmal von der Nachbarin. Sie pustete erleichtert Luft durch die Zähne, ging zu Tomkes Tür und drückte ganz leise die Klinke herunter. Das Flurlicht fiel in ein aufgeräumtes Kinderzimmer, noch keine Spur von jugendlichem Chaos! Im Bett schlief keine pubertäre junge Dame, sondern ihr kleines Mädchen und atmete ruhig. Ihr Grundschulkind, das sich morgen riesig über seinen Nikolausteller freuen würde.
Maria kehrte ins Wohnzimmer zurück, setzte sich aufs Sofa und versuchte, den Zeitsprung in ihrem Gehirn zu sortieren: Okay, ihre Tochter war noch in der Grundschule, nicht in der Pubertät. Das stimmte mit dem Großteil ihrer sonstigen Erinnerungen überein und war eine erleichternde Erkenntnis.
Die langen Tage aller Alleinerziehenden sind ja anstrengend, ganz besonders rund Feste.
War sie vor Erschöpfung bei den nächtlichen Vorbereitungen auf dem Teppich eingeschlafen und hatte einfach nur schlecht geträumt? Oder hatte irgendeine weihnachtliche Macht ihr Leben ein paar Jahre zurückgespult, um ihr die Chance für einen besseren Neustart von der Grundschule in Richtung Pubertät zu geben?
Im Ergebnis schien die Antwort auf diese Frage völlig egal.
Wichtig war nur, die Chance zu nutzen und noch wichtiger, dass ihr Kind morgen einen fertigen Nikolausteller vorfand. Also kniete die Mutter sich auf den Boden, öffnete die Verpackungen, dekorierte den Teller und achtete akribisch darauf, nicht dabei einzuschlafen.
Am Nikolausmorgen sauste das Kind aus dem Bett direkt zur Wohnungstür. Maria zog es im letzten Moment am Schlafanzugkragen zurück, um selbst durch einen Türspalt zu prüfen, ob sich die Explosion der Nacht nicht wiederholen könnte.
Tomke zerrte empört von hinten an ihrem Pullover: »Mama, was soll das, ich will zuerst gucken!«
»Entschuldige. Ich weiß, du willst und kannst das. Es ist nur …«
Erst als Maria sicher war, dass wirklich kein fremder Stiefel neben ihrem Nikolausteller auf der Schwelle oder sonst wo in Sichtweite im Treppenhaus stand, durfte Tomke sich darauf stürzen.
Mit schokoladenvollem Mund fragte das Kind glücklicherweise nicht weiter, warum Maria sich vorgedrängelt hatte oder wieso dieses Jahr der große Schokoweihnachtsmann fehlte.
Als Tomke aus der Schule kam, warf sie ihre Tasche mitten in den Flur und es sprudelte aus ihr heraus, wie großzügig der Nikolaus andere beschenkte: »Max bekam ein Samsung und Rhazal ein Sony. Jana hat ja schon lange ein Handy, nun auch noch ein Tablett. Und Mehmed brachte der Nikolaus sogar das neueste IPhone. Warum kriegen alle Smartphones, nur ich nicht? Obwohl ich viel bessere Noten habe als die? Immer nur Süßigkeiten. Das ist so ungerecht!«
Maria starrte auf zwei Bücher, die durch den Wurf aus der Schultasche auf den Flurteppich gerutscht waren, bemerkte an einer Buchecke einen gelblichen Fleck, schluckte und schwieg.
»Kriege ich zu Weihnachten auch endlich eines? Bitte bitte bitte!«
Tomke hatte längst herausgefunden, dass Nikolaus- und Weihnachtsgaben von Eltern kommen, womit das Geschenke-Quengelalter eröffnet war. (Nur an einer möglichen Nichtexistenz des Osterhasen zweifelte sie noch.) Während sie Schuhe und Jacke auszog, schob sie noch ein paar »Bitte« hinterher.
Die Mutter wünschte sich die Zeit der stillen, hoffnungsvoll bemalten Wunschzettel an den Weihnachtsmann zurück, hob die Jacke, gleich nachdem Tomke sie abgestreift hatte, vom Boden auf, hängte sie an die schon etwas zu niedrig gewordene Kindergarderobe und sagte:
»Weißt du, wenn es nur zum Telefonieren und Nachrichten mit Freundinnen schreiben wäre, sofort. Aber in den Dingern stecken inzwischen so viele Algorithmen, die deine Meinung bestimmen wollen und Netzwerke zu fremden Menschen, vor denen ich dich nicht schützen kann, das finde ich gefährlich.«
»Es gibt doch Kinderschutzapps. Rhazal kann damit nur YouTube-Kids gucken, kein richtiges YouTube, wenn sie zu viel guckt, geht das Handy ganz aus. Und bei Jana weiß die Mutter sogar immer genau, wo sie ist.«
»Und Google weiß auch immer, wo Jana ist und was Rhazal guckt. Vielleicht wäre es besser, die Kinder vor den Algorithmen der Kinderschutzapp-Anbieter zu schützen.«
»Was sind Algorithmen?«
»Das sind Computer-Berechnungen, wer du bist, was du machst, was dir am besten gefällt und was du darum zu sehen bekommst. Und was nicht. Leider bringt dich das schnell in Verbindung mit bösen Menschen.«
»Blödsinn. Mir gefallen keine bösen Menschen. Wenn der Algo, Algodingsda so schlau ist, dass er weiß, was mir gefällt, zeigt der mir doch nicht, was mir nicht gefällt.«
»Doch, weil gerade die extra so provozierend schreiben, dass ganz viele wütend werden und es anklicken oder kommentieren. Daraus berechnet der Algorithmus, dass es vielen gefällt, und zeigt es noch mehr Leuten. Auch dir. Und mit künstlicher Intelligenz wird das alles noch viel schlimmer.«
»Was ist verkehrt an künstlicher Intelligenz? Ist doch cool, wenn der Algodingsda …« Tomke sah ihre Mutter fragend an.
»Algorithmus«, beantwortete Maria den Blick.
»Genau, der, wenn der intelligenter wird, dann zeigt er vielleicht nichts mehr von bösen Menschen an?«
»Leider ist nicht alles, was intelligent ist, auch lieb.«
»Ich finde, nicht lieb sein ist nicht intelligent«, widersprach Tomke.
Die Mutter lächelte, ging ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa und breitete die Arme aus. »Finde ich eigentlich auch, komm mal her, du meine liebe und intelligente Tochter. Trotzdem ist es nicht dasselbe und künstlich ist es noch mal ganz was anderes.«
Tomke sprang auf ihren Schoß, Maria drückte sie fest an sich und erklärte:
»Künstliche Intelligenz ist wie ein Nikolausstiefel.«
Plötzlich passte alles zusammen. Sie sah den rauchenden Stiefelstumpf vor sich, nahm sich fest vor, ihre eventuelle zweite Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, und rang um die richtigen Worte. Nicht die mathematisch wahrscheinlich Richtigen, sondern die menschlich und kindgerecht Richtigen:
»Aber keiner von Mama. Sondern wie so einer, den du im Supermarkt gratis hinterhergeworfen bekommst. Du weißt nicht, was drin ist. Du weißt nicht, was raus kommt. Noch weniger, warum. Aber es gibt eine Firma, die ihn gefüllt hat. Und zwar nicht selbstlos, um dich zu beschenken. Noch weniger, um dich glücklich zu machen. Der kommerzielle Stiefel dient dazu, dich anzufüttern, um später an dir zu verdienen.«
Tomke zwirbelte nachdenklich in ihren Haaren. »Vielleicht können darum nur zwei Kinder aus meiner Klasse schwimmen?«
»Hä?« Maria konnte diesem Gedankensprung in keiner Weise folgen, gab sich aber Mühe: »Na ja, das hat bestimmt nichts mit Intelligenz zu tun, ob künstlich oder nicht, es liegt vielleicht eher daran, dass die Eltern keine Zeit dafür hatten. Und Schwimmkurse kann sich auch nicht jede Familie leisten.«
»Handys kosten doch auch Geld.«
Die Mutter nickte. »Da sagst du was. Und nicht wenig.«
»Okay, Mama, wir machen einen Deal. Wenn du nächstes Jahr für soooo viel Geld, wie ein Smartphone kosten würde, ganz, ganz viel mit mir ins Schwimmbad gehst, dann verspreche ich, bis nächstes Weihnachten nicht mehr um ein Smartphone zu betteln.«
Angesichts dieser kompletten Wunschrichtungsänderung, also blitzschnell neu verknüpfter Synapsen ihrer Tochter, fragte Maria sich nicht zum ersten Mal, ob sie in Tomkes Kleinkindzeit zu viel Rapsöl für die Gehirnentwicklung in die Gemüsegläschen gemischt hatte.
Möglicherweise lag es aber auch einfach daran, dass sie als einzige in ihrer Schulklasse eben noch kein Smartphone hatte und ihre Mutter sich alle erdenkliche Mühe gab, Kinderfragen jeder Art ehrlich zu beantworteten, anstatt sie mit der Floskel »dafür bist du noch zu klein« vom Tisch zu wischen und ihre Tochter vor digitaler Ablenkung zu parken.
»Ja einverstanden, Deal!«, antwortete Maria und hob die Handfläche zum ›High five‹, Tomke klatschte begeistert dagegen. Im Flur ging unbemerkt das Licht aus.
»Können wir heute gleich anfangen?«, drängelte das Kind.
»Womit?«
»Na, ins Schwimmbad!«
»Von mir aus, warum nicht.«
»Super, ich packe mein Schwimmzeug, du deines, und los!« Tomke sprang auf und rannte aus dem Wohnzimmer.
»Jetzt gleich? Hast du denn keine Hausaufgaben?«, rief die Mutter ihr hinterher.
»Och, ja, bisschen in Deutsch, aber passt schon. Wenn es nach dem Schwimmen zu spät wird, schreibe ich die schnell mit Chat GPT.«
»Ja. Nee! Was?«
Maria blieb einen Moment sprachlos auf dem Sofa zurück.
Dann eilte sie geradezu panisch in den Flur. Rauchgraue Buchstabenfäden zogen aus der Schultasche, zwischen den zwei herausgerutschten Büchern auf dem Flurteppich ragte eine Kante des schuleigenen Leih-IPads hervor. Über das sie noch weniger Kontrolle hatte als über ein eigenes Gerät.
Die Zukunft begann, bevor der Nikolaustag vorbei war.
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Die Pakjesboot 12 tuckerte weit draußen auf dem Meer mit Kurs auf Spanien.
Sinterklaas stand gut ausgeschlafen am Heck, blickte übers aufgewühlte Schraubenwasser in die Vergangenheit und nahm sich vor, nächstes Jahr wieder bei Tomke nach dem Rechten zu sehen.
Doch bis dahin würden noch eine Menge Bits und Bytes durch Datenkabel fließen.
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Mehr von Maria & Tomke?
Obige Geschichte ist eine Zukunftsvision für Tomke und kehrt im Verlauf brav zurück zu ihrem Alter in den anderen Folgen der Reihe ›Magische Elternrealität‹: Vom Kleinkind bis in die Grundschule.
Maria hat es nie leicht: Ähnlich wie hier "digitales" Thema war, knöpft sich sonst jede Novelle einen Aspekt oder eine Figur unserer Weihnachts- und Ostertraditionen vor, kritische Kinderfragen eingeschlossen.
Ein ebenso urkomisches wie informatives ›Must-Read‹ für Eltern sowie alle, die zu Weihnachten und Ostern mit Kindern zu tun haben oder hatten!
Die Folgen 1 bis 7 sind in sich abgeschlossen, prima in beliebiger Reihenfolge zu lesen und in verschiedenen Formaten erhältlich (sowie garantiert KI-frei).
Mehr über künstliche Intelligenz und unsere Zukunft?
Warnung: Dieses Buch kann bei intensiver Betrachtung unbequeme Denkanstöße austeilen.
Schreiben mit KI? Will ich das? Darf ich das?
Was mit der kleinen Geschichte einer langen Nacht beginnt, in der man sich wiedererkennt, führt im Verlauf zu völlig anderen Blickwinkeln. Diese Story ist in Wort sowie Bild ein einmaliges Experiment zwischen gestern und übermorgen.
Übrigens: Außer den (inhaltlich unvermeidbaren und deutlich als solche erkennbaren) Antworten von ChatGPT habe ich die Texte in diesem Buch (wie in allen meinen Bücher) komplett ohne KI geschrieben.
Auch das Cover und die aufwendigen 18 Grafiken wurden manuell erstellt: Mit eigenen Fotos und als Werkzeug diente, absichtlich, eine Photoshop-Version aus den Neunziger Jahren. Merkst du es?