Die kluge Maria
Als würde sie aus einem Traum erwachen, sah Liane sich im Zugabteil um. Die
Augen noch tränennass, erschöpft, als hätte sie eine gewaltige
Anstrengung vollbracht. Wie um alles in der Welt war sie hier
hergekommen? Sie erinnerte sich, in Frankfurt-Oder in einen Zug gestiegen zu sein, sie
wollte nach Hause, nach Berlin. Zurück in ihre kleine Wohnung,
allein sein, niemanden sehen und hören. Aber etwas schien gründlich
schief gelaufen zu sein.
Am Vormittag war sie spontan in den Zug gestiegen und wollte ihren
Freund Martin überraschen. Der musste früh noch einmal in sein
Büro, wollte aber am Abend zu ihr kommen und später wollten sie
gemeinsam Lianes Eltern besuchen. In
Frankfurt angekommen, ließ sie Linienbusse und Straßenbahnen an
sich vorüber fahren und lief zu Fuß in Richtung Innenstadt. Sie war
so beschwingt und fröhlich und als sie in die Straße, wo Martin
wohnte einbog, hüpfte ihr Herz vor Freude. Aber
dann, fast vor seiner Haustür angekommen, sah sie ihn, wie er mit
einer attraktiven Frau aus dem Gebäude kam. Eng umschlungen und sich
strahlend anlächelnd, schienen sie niemanden sonst zu bemerken.
Liane ertrug diesen Anblick nicht lange und änderte abrupt ihre
Richtung. Eine Ewigkeit irrte sie ziellos durch die Straßen, bis sie wieder am
Bahnhof angekommen war. Menschen eilten an ihr vorbei, irgendwo
spielte jemand Geige, aber all das nahm Liane nicht zur Kenntnis.
Schließlich stieg sie in den nächsten Zug, der in den Bahnhof
einfuhr und ließ ihren Tränen nun freien Lauf.
Sie registrierte kaum, als die Bahn sich in Bewegung setzte, schaute
nicht auf, wenn sie wieder hielt und kurz darauf ihren Weg
fortsetzte. Inzwischen war es schon fast Abend geworden. Sie
sah aus dem Fenster und konnte nichts erkennen, alles schwarz, nur
wage Konturen, ein paar schwache Lichter in der Ferne. Sie war allein
hier im Wagon, kein anderer Fahrgast war da. Nur in der letzten Reihe
saß eine Frau in Uniform, die jetzt gerade aufsah, Liane zulächelte
und ihr zurief „Kopf hoch, das wird schon wieder. Frohe
Weihnachten.“ Liane
sah sie verständnislos an. Weihnachten, oh nein, nie wieder wird es
für mich ein Weihnachtsfest geben, dachte sie bei sich. Sie steckte
ihre Hände tief in die Manteltaschen und sah wieder aus dem Fenster. Die rechte
Hand erfasste ein Stück Papier und als sie das kleine Blatt
entfaltete, schossen ihr plötzlich wieder Tränen in die Augen. Es
war aus, alles zu Ende.
Die Durchsage tönte wie aus weiter Ferne an Lianes Ohren, verstanden
hatte sie sie nicht. Der Zug kam langsam zum stehen. Sie lenkte ihren
Blick an die Stelle, wo eben noch die Frau in Uniform gesessen hatte,
der Platz war leer. Kalte Luft sprang sie an, die Abteiltür stand
weit offen. Ein Mann steckte den Kopf herein. „Junge Frau,
Endstation für heute, bitte steigen sie aus, die Fahrt endet hier.“
Wie in Trance erhob sich Liane von ihrem Platz, ging zur Tür und stieg
über die kleine Rampe aus. Es hatte angefangen zu schneien und nur
mit Mühe konnte sie lesen, was auf dem Bahnhofsschild geschrieben
stand: „Neuzelle”.
Ein schwaches Licht ließ sie den Weg über die Gleise zum
Bahnhofsvorplatz finden, ansonsten war es stockfinster. Laut
Fahrplan, der hier aushing, fuhr heute kein Zug mehr. Sie schaute
nach rechts, dann nach links. Eine Straße führte offensichtlich in
einen Ort und auch wieder hinaus. Was
sollte sie jetzt tun? Ihr wurde bewusst, das sie keine Idee hatte,
wie sie hier wieder weg kommen sollte. Langsam setzte sie einen Fuß
vor den anderen, es war doch sowieso alles egal jetzt.
Der frische Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer leichten
Stiefeletten. Der dünne Mantel bot keinen ausreichenden Schutz gegen
die kalte Winterluft, aber Liane bemerkte es kaum. Sie neigte den
Kopf etwas tiefer und ging einfach immer weiter geradeaus. Die Straße
führte durch ein kleines Dorf, an ihre Rändern stand ein Haus neben
dem anderen, nahezu ein jedes von warmem Licht erleuchtet. Die
Menschen hier feierten den heiligen Abend, wie überall auf der Welt.
Mit ihren Lieben, mit Kindern, Eltern, Enkeln und Verwandten,
Freunden und Nachbarn. Keine Seele begegnete Liane auf ihrem Weg. In
einiger Entfernung konnte sie die Umrisse eines großen Gebäudes
erkennen, hell und festlich mit Lichtern geschmückt. Weil sie direkt
neben einem Hinweisschild stand, konnte sie dort lesen: „Kloster
Neuzelle“. Ihr Gesicht war nun fast erstarrt, der Blick ausdruckslos. Eine Tür auf
der anderen Seite der Straße öffnete sich und ein Mann mit Hund
trat aus dem Haus. Er bemerkte Liane und rief ihr zu: „Frohe
Weihnachten“, aber Liane reagierte nicht darauf. Es war so still
hier draußen, nur wenn man ganz genau hinhörte, konnte man aus dem
einen oder anderen Haus Stimmen, Musik und Gelächter vernehmen.
Dann, einige Meter weiter, gab es plötzlich eine Explosion, grelles
Licht zuckte auf, ein paar Jugendliche grölten dazu.
Liane blieb wie angewurzelt stehen, sie war mächtig erschrocken. Sie
suchte Schutz an einer Hauswand, tastete sich vor bis zu einer Tür
und drückte hastig auf die Klinke. Sie trat ein und fand sich in
einer Hotelhalle wieder.
An der Rezeption hob ein älterer Herr müde den Kopf und sah Liane
fragend an. Sie wollte etwas sagen, aber die Stimme gehorchte ihr
nicht. Der Mann hinter dem Tresen straffte sich und bellte ihr
entgegen: „Wir sind ausgebucht.“ Liane
zuckte abermals zusammen, schüttelte sachte den Kopf und versuchte,
Fassung zu gewinnen. Genau in diesem Augenblick fing es in ihrem
Magen an zu grummeln, ihr schien, als müsste man es im ganzen Raum
hören. Könnte ich bei ihnen etwas essen ?“, fragte sie schüchtern. Der Mann an
der Rezeption verzog sein Gesicht und brachte ein falsches Lächeln
zustande. „Bedaure, unsere Küche hat schon geschlossen.“ Liane
schaute den schmalen Gang, der sich an die Halle anschloss, entlang.
Genau in diesem Moment trat aus einer Tür ein Kellner mit einem
Tablett, auf dem er Geschirr geladen hatte. Er lief den Gang entlang
und trat durch eine weitere Tür in einen Raum und man konnte nun
Menschen mit Besteck und Gläsern hantieren hören. Liane sah den
Portier fragend an und der beeilte sich zu sagen: „Eine
geschlossene Gesellschaft.“ Können
sie mir sagen, ob ich anderswo noch etwas bekommen kann?“, fragte
Liane. „Da werden sie kein Glück haben“, bekam sie zur Antwort.
Liane wandte sich dem Ausgang zu und trat wieder hinaus auf die Straße.
Der Schnee fiel jetzt in dicken Flocken auf die Erde, sie zog den
Mantelkragen enger und vergrub ihre Hände tief in den Taschen. So
setzte sie ihren Weg durch das Dorf fort. Nun
gabelte sich die Straße, auf einer kleinen Mittelinsel thronte ein
Denkmal. Sie entschied, rechts weiter zu gehen, es war auch egal, da
sie sich eh nicht auskannte. Hier war die Fahrbahn breiter und ab und
zu fuhr ein Auto an ihr vorbei. Auch hier waren die Häuser
weihnachtlich geschmückt und teilweise festlich erleuchtet, doch
Liane registrierte es kaum. Sie entschied, die Straßenseite zu
wechseln und nahm unbewusst einen Seitenweg, der leicht aufwärts
führte. Noch
nie hatte sie sich so dermaßen einsam und verlassen gefühlt, wie
jetzt gerade, wo sie niemanden kannte, nicht wusste, wo sie war und
wo hin sie gehen sollte. Warum nur war sie in den falschen Zug
gestiegen? Sie könnte schon lange zu Hause sein, in ihrer kleinen
Wohnung, im warmen und trocknen. Was sollte denn jetzt werden, sie
konnte doch unmöglich einfach immer weiter laufen. Die Gedanken
kreisten in ihrem Kopf und sie achtete nicht mehr auf den Boden unter
ihren Füssen. Ob ich einfach irgendwo anklopfen soll, fragte sie
sich, aber in diesem Moment rutschte sie auch schon auf dem
gefrorenen Stück Weg aus. Hart schlug sie mit der Stirn auf den
kalten Boden, spürte den Schmerz und verlor anschließend die
Besinnung. Eine
weiße Katze jammerte kläglich vor der Tür eines recht baufälligen
Hauses. Der Bewohner, ein alter Mann, hörte sie von drinnen und
öffnete einen Spalt weit. „Wo hast du dich auch wieder
rumgetrieben? Jetzt ist dir kalt und Hunger hast du sicher auch, komm
schnell rein.“ Die Katze schlüpfte ins Innere des Hauses und der
Alte wollte die Tür gerade wieder schließen, als er Liane liegen
sah. Er erschrak mächtig und überlegte kurz, was er machen sollte.
Dann entschloss er sich, näher heran zu gehen. Er
beugte sich über Liane, fasste sie am Ärmel und flüsterte: „Hallo,
junge Frau, was ist mit ihnen passiert, können sie mich hören?“ Wie
von weit her vernahm Liane seine Stimme, sie schlug die Augen auf und
griff sich an die Stirn. Schmerzverzerrt sah sie zu dem Mann auf. „Wo
bin ich?“ Der Mann trat einen Schritt zurück. „Sie sind
verletzt, können sie aufstehen?“ Liane stützte sich mit den Armen
auf, blieb aber am Boden sitzen. „Kommen sie, es ist zu kalt, sie
müssen aufstehen.“ Er reichte ihr seine Hand und Liane griff zu.
Aufzustehen war mühsam, sie fühlte sich total kraftlos und
schwankte ein wenig. Der Alte wollte sie stützen und musste dabei
selber aufpassen, das er nicht ins straucheln geriet. Als
Liane wieder auf ihren Beinen stand, zog der Alte sofort seine Hand
zurück. „Nun geht’s ja wieder“, murmelte er mehr vor sich hin,
als zu Liane gewandt, drehte sich um und ging durch die kleine
Gartenpforte zurück auf sein Grundstück.
Nachdem Liane erst an sich
herunter geblickt hatte, sah sie nun auf und dem Mann hinterher. Der
drückte gerade die Haustürklinke herunter und wollte im Haus
verschwinden. „Warten sie doch, ich hab mich noch gar nicht bei
ihnen bedankt“, rief sie ihm zu.
Schon gut, alles gut. Geh´n sie, gehen sie bitte weiter, es ist ja nichts
schlimmes passiert, oder?“, sagte er.
Liane fasste abermals an ihre Stirn, die noch immer blutete und weh tat.
„Ich blute leider noch“, sagte sie etwas wehleidig. Der Alte
brummte etwas unverständliches vor sich hin, kam aber doch zurück
und trat nahe an Liane heran. Lassen
sie mal sehen.“ Seine alte Hand zitterte ein wenig, als er sachte
eine Haarsträhne beiseite schob. „Hm, sieht wirklich nicht gut
aus.“ Er machte dabei ein so bekümmertes Gesicht, als hätte er
selber Schmerzen. „Hätten
sie vielleicht eine Binde oder ein Pflaster im Haus, damit die
Blutung stoppt? Ich kann das ja so nicht lassen und einen Arzt werde
ich jetzt wohl kaum finden.“
Der Alte kratzte sich am Kinn und man konnte sehen, wie es hinter seiner
Stirn arbeitete. Liane tat ihm schon leid und er wusste, er müsste
wohl auch helfen, aber er wollte sie nicht ins Haus bitten. Seit
unzähligen Jahren hatte niemand mehr sein Haus betreten, genau
genommen, seit seine Maria, seine geliebte Frau gestorben war. Seit
jenem Tag war nichts mehr wie vorher, er konnte es einfach nicht
verwinden, dass sie nicht mehr da war und nie mehr wieder kommen
würde. Mitten in seine Grübeleien fing Liane plötzlich an zu taumeln und sackte
auf ein mal zu Boden. „Fräulein,
oh nein, was mach ich nur?“ Der Alte erschrak fürchterlich und
kniete neben Liane nieder. „Aufwachen, bitte, sie können hier
nicht liegen bleiben“, sprach er mit großer Verzweiflung in der
Stimme. Er sah sich suchend um. Da, eine alte Plane, da könnte er
Liane erst drauf rollen und dann ins Haus ziehen. Er
stand auf und ging zwei Schritte in den dunklen Garten, die Plane
hing über einem der Äste. Er griff nach ihr, ging zurück zu Liane
und rollte sie tatsächlich auf die Plane, die er dicht neben sie auf
dem Boden ausgebreitet hatte. Dann zog er mit aller Kraft den
leblosen Körper auf sein Grundstück, den schmalen Weg zum Haus
entlang und so vorsichtig, wie er es vermochte, durch die Türöffnung
in den Flur des Hauses. Kaum war das letzte Stück der Plane drinnen,
zwängte er sich an Liane vorbei, sah sich draußen hektisch um und
drückte die Tür hastig zu.
Es war fast dunkel im Haus, nur aus dem Zimmer gleich links hinter der
Haustür fiel ein schwacher Lichtschein in den Flur. Der Alte kratzte
sich am Kinn und grübelte ein weiteres mal. Er konnte Liane
unmöglich weiter durch das Haus schleifen, er kam mit dieser
ungewöhnlichen Last nicht voran. Überall, auf fast jeder Fläche
des Zimmers, standen oder lagen Dinge, Zeitungsstapel, alte Kartons,
nach Größen sortiert, ineinander gesteckt. Hier eine Obstkiste,
gefüllt mit sorgfältig ausgespülten Gläsern, von Marmelade,
Leberwurst und Kompott. Da ein Häufchen Plastiktüten, ebenfalls
nach Größen sortiert, direkt daneben ein Karton mit trockenen
Zweigen aus dem Garten. Auf
dem einzigen Sessel im Zimmer lagen alte Illustrierte, davor ein
Stapel Bücher, ebenfalls alt und verschlissen. Der Tisch war als
solcher nicht mehr zu erkennen, auf ihm standen neben Kerzenstummeln,
gefalteten Tetra-Packs und einem Kästchen voller Einkaufsbons, noch
ein paar benutzte Teller und Tassen, eine Kaffeedose und ein alter
Atlas. An den Wänden alte Zeitungsausschnitte, vergilbte Bilder, ein
Bücherregal, das sein Last kaum noch tragen konnte und drohte, jeden
Moment in sich zusammen zu fallen. Ein kleiner Allesbrenner in der
einen Ecke des Raumes, in dem es zischte und knisterte. Licht kam vom
Weihnachtslichterbogen, den der Mann ins Fenster gestellt hatte,
ansonsten gab es nur noch eine Klemmleuchte, am Bücherregal
befestigt und jetzt nicht eingeschaltet.
Er sah wieder hinunter zu Liane, die sich jetzt zu bewegen begann. Sie
stöhnte ein wenig, was den Alten daran erinnerte, etwas zu
unternehmen. Pflaster, wo sollte er eines herbekommen? Seine
geliebte Maria, ja die hatte so etwas immer sofort zur Hand, wenn man
es brauchte. Anfangs, als hier im Haus noch eine gewisse Ordnung herrschte, als Maria
gerade erst von ihm gegangen war, hatte er noch all diese Dinge
gefunden. Bei der Gartenarbeit verletzte man sich auch schon mal und
benötigte Verbandszeug, da genügte ein Griff und er fand das
Gewünschte. Aber jetzt ... wo sollte er nur suchen? Wieder sah er zu Liane hinüber,
die jetzt immer unruhiger wurde und sich schon suchend im Zimmer
umsah. Er stieg über ihren Körper hinweg und ging ins
gegenüberliegende Schlafzimmer, ein Raum in dem es nicht besser
aussah als im Wohnraum. Das alte Ehebett, bis auf einen schmalen
Streifen beladen mit Wäsche, zwei Koffern, Bücher. An der Wand
gegenüber eine alte Kommode. Er zog die oberste Schublade auf und
griff hinein. Socken,
alte Brillen, ein Lesezeichen und eine kleine Schachtel, die er
hervorzog und öffnete. Tatsächlich befanden sich ein paar Pflaster
darin, nicht mehr ganz taufrisch, aber noch brauchbar. Erleichtert
nahm er die Schachtel an sich und ging wieder dorthin, wo Liane noch
immer auf der alten Plane am Boden lag.
Umständlich entfernte er die Schutzfolie eines der größeren Pflaster und
platzierte es über die Wunde an Lianes Stirn. Die erwachte nun
endgültig und erschrak, als sie den alten Mann so dicht über sich
gebeugt erblickte. Ruckartig versuchte sie nun, sich aufzurichten,
blieb einen Moment sitzen und schaute sich um. „Wo bin ich, haben
sie mich hier her geschafft?“
Der Alte nickte bekümmert: „Ich konnte sie ja schlecht draussen liegen
lassen, sie waren ohnmächtig.“ Ich
habe den ganzen Tag nichts gegessen“ sagte Liane und richtete sich
nun vollends auf. „Ich wollte ihnen keine Umstände machen, es tut
mir leid.“ „Schon gut“, murmelte der Alte vor sich hin.
Gleichzeitig überlegte er, wie er Liane wieder los werden konnte.
Nicht das er roh und gefühlskalt war, nein, das war es nicht. Aber
er wollte lieber allein für sich sein, besonders an diesem Abend.
Seine Maria fehlte ihm an jedem Tag seines Lebens, aber zu dieser
Zeit, zu Weihnachten, spürte er seinen Verlust doppelt. Wie schön
hatte sie immer das Haus hergerichtet, alles blitzblank geputzt,
jeden Raum wunderschön dekoriert, alles war so heimelig. Jedes Jahr
gab es am heiligen Abend selbstgemachten Kartoffelsalat und feine
Wiener Würstchen. Am ersten Feiertag dann eine Gans mit Grünkohl
und Klößen. Und am zweiten Festtag dann Rinderrouladen mit Gemüse.
Heute
hatte er nur ein wenig Brot im Haus und eine Salamiwurst, mehr
brauchte er nicht, er hatte schon lange kaum noch Appetit und aß
nur, wenn es unbedingt sein musste. Jetzt überlegte er, ob er dieser
jungen Frau etwas anbieten sollte. „Ich habe nicht viel da, Wurst
und Brot. Soll ich ihnen was bringen? Liane
sah ihn an und bemerkte wohl, das er sehr zögerlich sprach. Es war
ihr unangenehm hier zu sein und sie sagte: „Ich mache mich wohl
besser wieder auf den Weg, ich merke ja, das es ihnen nicht recht
ist, das ich hier bin. Trotzdem danke ich ihnen, das sie sich um mich
gekümmert haben.“ Damit
griff sie nach ihrer kleinen Handtasche, die auf dem Tisch lag,
hängte sie sich über die Schulter und drehte sich zur Tür. Der
Alte sah ihr zerknirscht zu, auch ihm war nun nicht wohl in seiner
Haut und das schlechte Gewissen plagte ihn. Wo
wollen sie denn hin, heute am Weihnachtsabend, haben sie hier
Familie?“ Liane drehte sich zu ihm um, ihre Augen füllten sich mit
Tränen und sie sagte: „Familie, nein die hab ich hier nicht.“
„Ich bin versehentlich in einen falschen Zug gestiegen und der hat dann
hier in diesem Ort gehalten und heute fährt kein anderer mehr
zurück. Ich dachte, ich könnte irgendwo ein Zimmer nehmen, aber der
Gasthof im Dorf ist ausgebucht. Jedenfalls sagte das der Portier. Da
bin ich einfach losgelaufen, vielleicht, dachte ich, finde ich noch
eine andere Möglichkeit. Dann
kam ich hier an ihrem Haus vorbei und bin direkt davor auf dem
vereisten Weg gefallen.“ Sie
werden hier kein Zimmer mehr bekommen, Neuzelle ist über die
Feiertage immer rappeldicke voll. Außerdem führt dieser Weg hier
aus dem Dorf heraus, nicht weit von hier kommt das Gewerbegebiet und
dann nur noch Wald und Landstraße.“ Liane
sah ihn müde an. „Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?“,
fragte sie. Etwa sieben Kilometer“, antwortete der Mann. „Ich
könnte mir ein Taxi rufen.“ „Da werden sie sicher auch kein
Glück haben, das geht hier an so einem Abend nur mit Vorbestellung“,
sagte der Alte. Liane
sah ihn entsetzt an. „Das heißt, ich komme hier heute nicht mehr
weg?“ „Es sieht ganz danach aus“, war seine Antwort. Liane
ließ den Kopf und die Schultern sinken, dann sah sie den Mann
traurig an. Der blickte sich in dem Zimmer um, hob mit einer
hilflosen Geste beide Arme und sagte dann: „Es ist eine Ewigkeit
her, das hier jemand übernachtet hat. Ich bin darauf nicht mehr
eingestellt, sie sehen doch selbst.“
Liane hatte natürlich schon längst bemerkt, welche Zustände in diesem
Haus herrschten. Es war nicht nur schmutzig und stickig hier drinnen,
der Mann war ein Messi wie er im Buche stand. Dennoch, trotz des
augenscheinlichen Chaos, hatte er eine eigenwillige Ordnung für sich
entwickelt. Und er sammelte Dinge, die wohl für niemand anderen
einen Sinn ergeben würden, das war typisch für Menschen, die man
mit dem Begriff Messi belegte. Normalerweise würde sie im Leben
nicht auf den Gedanken kommen, einen solchen Haushalt auch nur zu
betreten, geschweige denn, hier übernachten zu wollen. Aber was
blieb ihr jetzt und hier für eine Wahl? Bitte,
ich würde sie nicht fragen, wenn es nicht so kalt draußen wäre. Da
könnte ich auf dem Bahnsteig oder sonstwo schlafen.“ Der Alte war
in einer echten Zwickmühle, was sollte er nur tun ? Er brummte mehr
als dass er sprach: „Ich könnte versuchen, etwas Platz zu
schaffen.“ Liane sah in unsicher an: „Wenn sie es möchten, kann ich helfen?“
Oh nein, sie würden mir alles durcheinander bringen, das muss ich
alleine machen“, wehrte er heftig ab. Seine
Worte klangen erst zornig und zum Ende fast weinerlich, Liane fühlte
sich unwohl, wie schon lange nicht mehr. Versöhnlich versuchte sie
es: „Verzeihen sie mir, ich hab mich ihnen ja noch gar nicht
vorgestellt, ich heiße Liane“, dabei streckte sie ihm die Hand
entgegen. Er ergriff sie und erwiderte: „Mein Name ist Bruno Reich, freut mich.“ Na,
das nehme ich dir nicht ganz ab, dachte Liane bei sich, aber was
soll`s. Dann schaute sie sich noch einmal im Zimmer um und versicherte
dem Alten: „Ich will hier bei ihnen sicher nichts durcheinander
bringen. Sagen sie mir doch einfach, was ich tun kann.“ Nun
sah sich auch Bruno Reich im Raum um. „Setzen sie sich man hier auf
den Sessel“, und dabei hob er den Stapel Zeitungen auf und trug sie
in eine Zimmerecke. Liane setzte sich gehorsam, klemmte die
Handtasche neben sich und wartete ab.
Dann kam er wieder näher, ging umständlich um den Tisch herum und hob
eine dicke Wolldecke an. Liane schielte herüber, tatsächlich, da
kam eine Couch zum Vorschein. Sie hatte den komischen Berg schon
wahrgenommen, aber nicht weiter drüber nachgedacht. Allerdings lagen
auch da etliche Dinge, die normalerweise nicht dort hingehörten.
Eine Obstkiste mit sauber gespülten Konservendosen, weitere Stapel
Zeitungspapier, mindestens zwanzig Zangen aller Größen und eine
Schachtel Nägel. Der Mann sah ratlos aus. „Wenn ich dafür einen
anderen Platz finde, könnten sie hier schlafen.“ Oh,
das wäre wirklich sehr freundlich von ihnen“ antwortete Liane
schnell. „Sachte,
bitte drängen sie mich nicht“, kam es scharf von ihm zurück.
Liane schluckte, wäre sie nicht in dieser äußerst blöden Lage,
würde sie wohl jetzt aufstehen und gehen. Der
Mann griff nach der Decke und legte sie wieder über das
Sammelsorium. „Ich hole uns erst einmal was zu essen“, sagte er,
um Zeit zu gewinnen. Dann schlurfte er aus dem Zimmer.
Liane
hatte irgendwo gelesen, das Menschen mit dem Messi-Syndrom niemanden
mit ihrem Tick ärgern wollten, sie konnten einfach nicht aus ihrer
Haut und brauchten Hilfe, um ihr Leben wieder einigermaßen in den
Griff zu bekommen. Wer weiß, wie es bei diesem Mann dazu gekommen
war? Ob er selbst wusste, was mit ihm nicht in Ordnung war? Sie
wollte sich keinesfalls einmischen, es war doch nur ein Zufall, das
sie hier bei ihm gelandet war. Notfalls bleibe ich die Nacht über in
diesem Sessel sitzen und mache mich gleich am nächsten Morgen auf
den Weg zum Bahnhof. Irgendwann musste ja wieder ein Zug fahren.
Da
kam der Alte schon wieder zurück, er trug ein Brettchen, auf dem
eine Wurst lag, ein Messer und ein Brotlaib. Lianes Blick fiel auf
den Tisch vor sich. „Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf den
Haufen Tetrapacks. Der Alte nickte und sie hob den Packen an und
legte ihn neben sich auf den Boden. Bruno Reich legte nun das, was er
in Händen hielt, auf den freien Platz auf den Tisch. Wieder kratzte
er sich am Kinn. „Sie wollen sicher Butter, oder?“ Nur
wenn es keine Umstände macht“, sagte Liane. Er drehte sich wieder
zur Tür und verließ noch einmal das Zimmer, kehrte aber schnell mit
einer Butterdose aus Porzellan zurück. „Die
sieht aber schön aus“, versuchte Liane wieder, mit ihm ein
Gespräch zu beginnen. „Die gehörte meiner Schwiegermutter, echtes
Zwiebelmuster“, gab er Auskunft. Dann begann er, die Salamiwurst in
dicke Scheiben zu schneiden, schnitt auch Brot ab und reichte Liane
das Messer. Die strich sich etwas von der Butter auf das Brot und
legte ein paar Scheiben von der Wurst darauf. Bruno
aß die Wurst zum trocknen Brot. Dabei war er neben dem Tisch stehen
geblieben und aß im Stehen. Liane wollte spontan fragen, ob er nicht
noch einen Stuhl hätte, aber sie verkniff es sich, das könnte ihn
wohl wieder in Schwierigkeiten bringen. Plötzlich legte er das Brot
aus der Hand, sah sich um und griff hinter den dicken Vorhang, der
vor den Fenstern hing. Er holte einen hölzernen Klappstuhl hervor
und setzte sich an den Tisch. Is
wohl gemütlicher“, brummte er und Liane nickte ihm zu. Einen
Augenblick später fragte sie ihn: „Hätten sie vielleicht ein Glas
Wasser für mich?“ Er
sah sie an, als überlegte er, was er gehört hatte. Dann stand er
auf und verließ nochmals das Zimmer, um gleich darauf mit einer
Flasche und einem Glas zurück zu kehren. „Das ist Apfelsaft, ich
hoffe, sie mögen ihn.“ Er goss auch gleich ein und schob ihr das
Glas zu. „Vielen Dank“, sagte Liane und trank fast gierig das
Glas leer. „Hören
Sie, Herr Reich, ich könnte doch hier in diesem Sessel sitzen
bleiben, ich bin so müde, das es mir nichts ausmachen würde“,
sagte Liane nach einer Weile. Der
Alte sah sie bekümmert an: „Auf alle Fälle kann ich sie ja wohl
schlecht auf die Straße zurück jagen. Wie konnte es denn nur
passieren, das sie hier in unserem Dorf gelandet sind?“ Ich
sagte ja schon, ich bin in den falschen Zug gestiegen. Ich war so
durcheinander und hab nicht aufgepasst.“ Liane bemerkte, wie ihr
die Tränen in die Augen traten und sie drehte den Kopf zur Seite.
„Entschuldigung, ich will sie mit meinem Kram nicht behelligen.“ „Schon
gut“, sagte der Alte da, „mir ist auch manchmal zum heulen,
besonders jetzt, zu Weihnachten.“ Und
dann fing er an zu erzählen, von seiner Maria, wie schön die Zeit
ihrer Ehe war, obwohl sie kinderlos geblieben ist. Wie sie viele
schöne Jahre in diesem Dorf und in diesem Haus gelebt hatten und wie
Maria dann plötzlich sehr krank wurde. Das war jetzt fast genau drei
Jahre her und seit dem Tag ihres Todes, war er aus der Spur geraten. Sie
hatten immer schon sehr für sich gelebt, hatten wenig Kontakt zu den
Nachbarn, waren sich immer selbst genug gewesen. Maria konnte
wunderschön zeichnen, liebte den kleinen Garten und kochte und
backte für ihren Bruno von Herzen gern. Er
arbeitete als Brauer in der ortsansässigen Klosterbrauerei und
erledigte nach Feierabend alle anfallenden Arbeiten in Haus und
Garten. Mit ihrem kleinen Auto fuhren sie in der Gegend umher,
besuchten Ausstellungen, gingen ins Theater oder Kino, es war ihnen
nie langweilig. „Ich habe auch noch all ihre Sachen aufgehoben,
konnte nichts davon wegwerfen, ist das nicht verrückt?“ Er
sah Liane traurig an und die griff zaghaft nach seiner alten,
faltigen Hand, die er auf den Tisch gelegt hatte. Das
tut mir sehr leid für sie“, sagte sie leise. „Wenn
man fast sein ganzes Leben mit ein und dem selben Menschen verbracht
hat, ist es nicht leicht, wenn der nicht mehr da ist“, sagte er mit
leerem Blick. Eine Weile saßen sie so schweigend, ein jeder in seine
Gedanken versunken. Dann schaute der Alte Liane an und fragte: „Haben
sie einen Mann oder Familie?“ Liane
spürte, wie ihr wieder die Tränen kamen und mit einem dicken Kloß
im Hals antwortet sie: „Ich hatte einen Freund, bis heute morgen,
es ist vorbei, einfach so, er hat eine andere.“ Jetzt
streichelte der alte Mann ihre Hand und sagte: „Aber, aber,
vielleicht renkt sich ja doch alles wieder ein. Sie lieben ihn doch,
oder?“ Liane
schüttelte heftig den Kopf. „Nein, da renkt sich nichts wieder
ein, ich habe ihn mit einer Frau gesehen, wie sie gemeinsam aus
seiner Wohnung kamen, eng umschlungen und sehr verliebt, richtig
ekelhaft war das“, antwortet sie und sah dabei so unglücklich aus,
das der Alte nicht wusste, was er raten sollte. Sie
sind noch jung, da können noch viele Prinzen kommen“, sagte er,
war sich aber sicher, das das kein Trost sein konnte.
Liane griff in ihre Manteltasche und legte das zerknüllte Stück Papier
vor sich auf den Tisch. Mit einem warmen Lächeln faltete sie es
auseinander und sah den Alten an. „Da, sehen sie, es hätte alles
so schön sein können.“ Bruno
griff nach dem Papier und schaute lange darauf, dann sah er Liane an
und fragte „Ist das ein Ultraschallbild, so eines, worauf man ein
Baby erkennen kann?“ Liane nahm das Bild wieder an sich. „Ja, das
ist unser, nein, mein Kind“, sagte sie fast trotzig. Aber
wollen sie es ihm denn nicht sagen, ich meine, das er Vater wird?“,
fragte Bruno. „Nein,
niemals. Und es würde ja auch nichts ändern, er hat sich anders
entschieden, ich habe es doch gesehen.“ Versonnen
schaute der Alte vor sich auf die Tischplatte. „Maria und ich
wollten nie Kinder, ein Entschluss, den wir beide gemeinsam gefasst
hatten. Aber heute denke ich manchmal, ob es nicht auch schön wäre,
einen Sohn oder eine Tochter zu haben.“ Liane
steckte das Stück Papier wieder zurück in ihre Manteltasche. Ich
will nicht, das er nur wegen dem Kind bei mir bleibt. Und wer weiß,
vielleicht würde er es ja auch vorziehen, lieber zu zahlen und will
ansonsten seine Ruhe vor mir und dem Kind. Ich würde ihm auch nie
wieder vertrauen können. Hätten sie ihrer Frau eine Affäre
verziehen?“ Der
Alte rieb sich mal wieder das Kinn, ziemlich heftig sogar. Lange
sagte er kein Wort und Liane bereute schon, gefragt zu haben, es ging
sie ja auch wirklich nichts an, dachte sie.
Aber
dann fing er doch an zu sprechen. „Es war ganz zu Anfang, bald nach
dem wir uns gefunden hatten. In der Brauerei hatte eine neue
Lohnbuchhalterin angefangen, ein hübsches Mädel und gar nicht
schüchtern, im Gegenteil. Sie gefiel mir sehr und nicht nur mir,
fast alle Kollegen machten ihr, mehr oder weniger den Hof, so sagte
man damals. Sie sind ja noch jung und bei ihnen sagt man sicher anders dazu, wenn ein
paar Kerle völlig aus dem Häuschen sind, sobald eine attraktive
Frau auftaucht. Wie dem auch sei, ich erzählte meiner Maria nichts
von der Frau, die auf der Arbeit allen den Kopf verdrehte, obwohl
selbst die Kunden schon davon Wind bekommen hatten, weil sogar der
Chef ganz begeistert von ihr schwärmte. Wenn sie durch die Hallen
unserer Brauerei ging, ließen die Männer Arbeit Arbeit sein, sie
raunten und pfiffen ihr hinterher, aber sie lächelte nur und genoss
den Trubel um ihre Person ganz offensichtlich. Und wie es der Zufall
wollte, alle hatten schon Feierabend, nur ich hatte mich mit dem
Pförtner ein wenig verplauscht, da stand sie plötzlich vor uns und
sagte mit einem umwerfenden Lächeln, das ihr Auto nicht anspringen
würde, und fragte, ob ich mal nachsehen könnte. Der
Pförtner schmunzelte und ich glaube, das ich sogar rot geworden bin,
das war peinlich, aber ich ging mit ihr zum Parkplatz. Dann
öffnete ich die Motorhaube, ein kleiner Schlauch war abgesprungen
und hing nun frei herum. Ich setzte ihn an die richtige Stelle und
bat die Frau, den Wagen zu starten. Er sprang sofort an und ich war
froh, das es nur eine Kleinigkeit war, was ihm gefehlt hatte. Sie
aber sprang aus dem Auto, war in Null Komma Nix neben mir und sprang
mir um den Hals, ja sie küsste mich, völlig aus dem Häuschen,
überall im Gesicht, auf den Mund, die Augen. Ich hätte im Erdboden
versinken wollen, aber sie hörte gar nicht auf, mit ihrem Gejubel
und Geküsse. Schließlich konnte ich mich doch befreien und lief
schnell zu meinem Wagen, startete und fuhr nach Hause.
Maria und ich wohnten damals noch nicht zusammen, sie hatte ein Zimmer bei
einer alten Dame hier im Dorf und ich wohnte einen Ort weiter. Aber
wir waren schon verlobt und wollten bald heiraten. Wir sahen uns
meist nur am Wochenende und erst nach der Hochzeit und als wir hier
unser kleines Haus bezogen, verbrachten wir auch die Nächte
miteinander. Ich hatte den Vorfall mit der Bürodame schon wieder vergessen. Eines
Abends lief im Fernsehen eine Komödie, da sagte Maria plötzlich zu
mir: „Ich hab heute euren Pförtner im Dorf getroffen.“ Ich
sah sie kurz an und dann wieder in der Fernsehapparat. „Schön,
sicher war er einkaufen“, antwortete ich. Allerdings,
er wollte in die Parfümerie, ein Geschenk besorgen“, sagte Maria. „Hm,
auch gut“, war meine knappe Antwort. Maria griff zu den
Salzstangen, die auf dem Tisch vor uns standen. „Er sah sehr
glücklich aus. Und er erzählte, das er sich verloben würde.“ „Ach,
mit wem denn?“, fragte ich, obwohl mich das eigentlich nicht
sonderlich interessierte. „Mit
der hübschen jungen Frau aus eurer Lohnbuchhaltung, hast du das
nicht gewusst?“ „Nein, woher denn?“, gab ich zurück. „Er
hat mir auch erzählt, wie die zwei sich näher gekommen sind“,
bohrte Maria ein bisschen weiter. Der
Fernsehfilm war gerade so lustig und ich fühlte mich ein wenig
gestört, darum sagte ich etwas mürrisch: „Was geht mich das an,
wie die sich gefunden haben?“ Nun,
immerhin hast du maßgeblich dazu beigetragen“, war Marias
amüsierte Antwort. „Quatsch,
was hab ich denn mit den beiden zu tun?“, antwortete ich. Maria
machte dieses Frage-Antwortspiel sichtlich Vergnügen und sie fragte:
„Erinnerst du dich denn nicht an den Tag, als ihr Auto streikte?“ Mir
wurde auf einmal ganz heiß, ich muss wohl sehr dumm ausgesehen
haben, jedenfalls sagte Maria dann auch noch: „Ach ihr Männer,
manchmal seid ihr wirklich schwer von Begriff.“ Was
meinst du damit“, fragte ich nun etwas ärgerlich. Ich wollte mich
nicht streiten, aber das wurde mir nun doch zu dumm. Schlimm genug,
das ich mich an diesen Tag erinnern musste. Jetzt befürchtete ich
auch noch, das der Pförtner meiner Maria alles erzählt haben
könnte. Wie die Frau an meinem Hals gehangen hatte, mich geküsst
hatte und ich förmlich die Flucht ergreifen musste. Wie sollte ich
ihr das erklären? Aber
da sprach sie auch schon weiter. „Er hat mir erzählt, wie sie
damals, als sie neu in der Firma angefangen hatte, allen Männern den
Kopf verdreht hat, allerdings ohne es zu wollen. Ganz unangenehm war
es ihr wohl nicht, aber sie hatte an keinem wirklich Interesse. Außer
an einem, aber der bemerkte es nicht. So oft sie auch versuchte, mit
ihm in ein Gespräch zu kommen, es wurde nichts daraus. Wer
soll denn der Glücklich gewesen sein“, fragte ich, nun doch
neugierig geworden. „Na
der Pförtner“, sagte Maria mit fröhlichem Lachen. „Und dann hat
sie zu einer List gegriffen. Sie blieb etwas länger als die
restliche Belegschaft im Betrieb und hoffte, mit ihm allein zu sein.
Aber da warst du, mit dem Mann in ein Gespräch vertieft und sie sah
schon wieder ihre Chance schwinden. Sie
löste an ihrem Auto irgendeinen Schlauch, kam wieder zu euch und bat
dich um Hilfe. Und du hast den Fehler auch sehr schnell gefunden und
sie beschloss jetzt, aufs Ganze zu gehen. Sie hat sich bei dir
überschwänglich bedankt und gehofft, das der Pförtner nun endlich
so richtig eifersüchtig werden würde. Und es hat geklappt. Dir war
die Sache wohl sehr peinlich, sagte der Pförtner, aber ihm sei
plötzlich klar geworden, das er diese Frau unbedingt näher
kennenlernen wollte. Sie
haben an diesem Abend noch sehr lange geredet und sind anschließend
sogar noch essen gegangen. Seit dem sind sie ein Paar, haben sich
aber geeinigt, das in der Firma nicht publik zu machen. Bis heute,
denn ihre Verlobung wollen sie schon bekannt geben. So ein bisschen
stolz ist der Gute dann doch, das die hübsche Frau ihn erwählt hat.
Besonders, weil er bis zu dem Tag mit dem Täuschungsmanöver, nichts
von ihren Bemühungen bemerkt hatte.“ Aber
bist du jetzt nicht böse, weil ich dir von dem Tag nie was erzählt
habe?“ Maria sah mich liebevoll an: „Aber Bruno, du wirst deine Gründe gehabt
haben. Sicher hast du befürchtet, ich würde dir nicht glauben. Und
wer weiß, vielleicht hättest du doch eines Tages davon gesprochen,
was weiß ich?“ Das
ist jetzt alles schon so lange her“, sagte der Alte und sah Liane
dabei an, „wir hatten trotz allem eine wundervolle Ehe. Meine Maria
war eine kluge Frau.“ Liane
hatte ihm die ganze Zeit aufmerksam zugehört und dabei, ohne das sie
es selber merkte, wieder auf das Ultraschallbild ihres Kindes
gesehen. Was
wollen sie mir damit eigentlich sagen?“, fragte sie den Alten. „Das
kann ich ihnen sagen, junge Frau. Zum Einen sollte man nicht immer
vom Schlimmsten ausgehen, nicht alles, was man sieht, ist auch so,
wie es scheint. Zum Anderen wäre es vielleicht klug, einfach mal
abzuwarten, wie sich alles entwickelt. Wissen sie die Hintergründe,
warum sie ihren Freund in dieser Situation angetroffen haben ? Warum
glauben sie nicht an ihn, wenn sie doch sein Kind unter dem Herzen
tragen ? Vielleicht gibt es eine Erklärung für alles?“ „Ach
ja? Was soll das für eine Erklärung sein? Soll ich ihn vielleicht
fragen?“ Warum
nicht, wäre meine Maria damals Zeuge dieser Sache gewesen, sie hätte
sicher gefragt.“ „Ich bin nicht wie ihre Maria.“ „Nein,
das sind sie nicht. Sie sind eine moderne junge Frau, vielleicht
haben sie sich schon sehr genaue Gedanken über ihre Zukunft gemacht
und nun ist etwas passiert, was da nicht reinpasst.“ „Allerdings,
ich wollte ihn mit der Nachricht, dass wir ein Baby bekommen,
überraschen. Stattdessen sehe ich ihn mit einer Anderen, was soll
ich da noch fragen?“ „Wollen
sie denn ihr Glück so einfach aufgeben?“ „Er
hat doch...“, weiter kam Liane nicht, da fiel ihr der Alte ins
Wort: „Sie haben etwas beobachtet. Er hat keine Gelegenheit
bekommen, etwas zu erklären, richtig?“
„Ja aber...“, stammelte Liane. „Nichts
aber, reden sie mit ihm, möglicherweise gibt es eine harmlose
Erklärung und sie geben ihm nicht die Chance, alles gerade zu
rücken. Es geht um ihr Glück und um das Baby.“ Liane
sah ihn die ganze Zeit über an, schüttelte aber den Kopf bei seinen
Worten. “Ich kann das nicht“, seufzte sie. Der
Alte sagte: „Sie haben doch sicher ein Handy, rufen sie ihn an.“
Zögernd
nahm Liane das Smartphone aus ihrer Handtasche und erschrak, als sie
20 Anrufe bemerkte. Er hatte versucht, sie zu erreichen. Pah,
sicher nur, um mir irgend etwas vorzulügen, dachte sie bei sich. Was
ist, warum rufen sie nicht an?“
Anstatt die Frage zu beantworten, sagte Liane: „Er hat es auch schon
versucht. Sicher wundert er sich, das er mich nicht erreicht hat,
schließlich wollten wir den Abend zusammen verbringen. Aber nachdem
ich ihn mit der Frau gesehen hatte, hab ich mein Handy ausgeschaltet. Und
jetzt weiß er nicht einmal wo sie sind, er macht sich bestimmt große
Sorgen“, sagte der alte Mann. Dann
stand er plötzlich auf, machte sich am Bücherregal zu schaffen und
wandte sich zur Zimmertür. „Ich hab ganz vergessen meinem Nachbarn
noch ein wichtiges Buch zu bringen, bin gleich wieder zurück.“ Dann
verließ er das Haus und Liane war allein in der Stube. Gerade
als sie die Nummer von ihrem Freund eintippen wollte, schrillte das
Handy auch schon los. „Ja“, hauchte sie schüchtern in das Gerät. Liane,
mein Gott, wo steckst du ? Ich versuche dich seit heute früh zu
erreichen. Was ist denn los, ist dir etwas passiert?“ Seine
Stimme war laut und klang sehr aufgeregt. Sag
doch was“, rief er. „Ich,
ich ... bin in Neuzelle. Ich habe dich gesehen, heute morgen. Du
warst nicht allein und ich dachte...“ „Was
dachtest du, und warum warst du hier ? Ich sollte doch zu dir kommen,
wir wollten Heiligabend zusammen verbringen, schon vergessen?“,
fragte er nun etwas ruhiger, „und was zum Teufel, machst du in
Neuzelle?“ „Ich
bin in den falschen Zug gestiegen, ich wollte nur noch schnell nach
Hause. Und dann fuhr er nicht weiter, Endstation.“ Sie
fühlte sich jetzt wie ein kleines, verlassenes Kind und fing an zu
weinen. Und nun“, fragte er am anderen Ende, „was soll jetzt werden?“ Liane
blieb eine lange Weile stumm, dann fragte sie: „Wer war die Frau
heute morgen, mit der du so eng umschlungen aus dem Haus kamst?“ Das
war meine Schwester, ich hab dir doch von ihr erzählt. Sie ist
Auslandsjournalistin und muss nach New York, da wollte sie sich
verabschieden. Sie war zum Frühstück hier und musste gleich weiter
zum Flughafen.“ „Aber ich ... ihr saht so verliebt aus … ich dachte ...“, Liane
stammelte die Worte hervor. „Aber
Liebling, was erzählst du denn da, sie ist meine Schwester. Und ja,
ich hab sie sehr gern, sie ist alles, was von meiner Familie übrig
ist, das weißt du doch. Warum bist du nicht dazu gekommen, wenn du
schon da warst. Und, sag mal, warum warst du eigentlich da?“,
stutzte er jetzt. „Liane,
was ist los, sag mir bitte genau, wo du bist, ich hole dich ab“,
jetzt klang seine Stimme sehr bestimmt. In
diesem Augenblick kam der Alte wieder zur Tür herein und
schmunzelte. Nur zum Schein murmelte er: „Oh, ich will nicht
stören.“ Aber Liane hatte das Handy in der Hand und starrte auf
den Tisch. Kurz
entschlossen griff Bruno Reich danach und hielt es sich ans Ohr. Hallo,
hier spricht Bruno Reich. Ihre Freundin ist hier bei mir, sie hat
sich verletzt, aber es ist nicht sehr schlimm, vielleicht eine
leichte Gehirnerschütterung und eine Beule. Aber sie kann hier nicht
bleiben, ich bin nicht auf Besuch eingerichtet. Können sie sie nicht
holen?“ „Bitte sagen sie mir ihre Adresse, ich komme sofort“, rief der junge Mann
ins Telefon. „Das mache ich, mein Lieber. Aber vorsichtig fahren, es könnte glatt
sein, hat ordentlich geschneit die letzten Stunden. Und ich nehme an,
sie werden noch gebraucht“, sagte der Alte, sah zu Liane und
lächelte. Die nickte heftig und wischte sich die Tränen fort, dann
legte sie die Finger auf die Lippen, was heißen sollte, der Alte
sollte nichts verraten. Und der verstand sofort und gab er ihr das
Handy wieder zurück. „Er
macht sich unverzüglich auf den Weg, nun wird doch noch alles gut,
oder?“ „Ich glaube ja. Ich war ganz schön dumm, was meinen sie?“ Der
Alte kratze sich am Kinn. Ach, das sind sicher die Hormone. Angehende Mütter sollen ja manchmal
recht kompliziert sein“, grinste er. ENDE
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Über die Autorin:
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Juli Zimmermann lebt mit ihrer Hündin Emma in einer Kleinstadt in Brandenburg.
Schreiben und Lesen haben ihr Leben schon immer begleitet, nun getraut
sie sich, mit diesem Beitrag im Autoren-Adventskalender eine ihrer Kurzgeschichten zu veröffentlichen.
In ihrer Freizeit kümmert sie sich liebevoll um ihren kleinen
Schrebergarten, hat kürzlich ihre eigene Schreibgruppe gegründet und arbeitet aktuell an einem Roman mit historischem Hintergrund.
Aus einem bewegten Leben und dank ihren vielseitigen Interessen,
findet sie so immer wieder neuen Stoff für spannende Geschichten.
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Kontakt: Die Autorin bei Facebook
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Juli Zimmermann freut sich auch über Deine Meinung zur Geschichte: In der Gruppe vom Autoren-Adventskalender bei facebook
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