Autoren - Adventkalender 2018

Juli Zimmermann

Willkommen hinter meinem Türchen vom:
21.12.

 

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Die kluge Maria

Als würde sie aus einem Traum erwachen, sah Liane sich im Zugabteil um. Die Augen noch tränennass, erschöpft, als hätte sie eine gewaltige Anstrengung vollbracht. Wie um alles in der Welt war sie hier hergekommen? Sie erinnerte sich, in Frankfurt-Oder in einen Zug gestiegen zu sein, sie wollte nach Hause, nach Berlin. Zurück in ihre kleine Wohnung, allein sein, niemanden sehen und hören. Aber etwas schien gründlich schief gelaufen zu sein.

Am Vormittag war sie spontan in den Zug gestiegen und wollte ihren Freund Martin überraschen. Der musste früh noch einmal in sein Büro, wollte aber am Abend zu ihr kommen und später wollten sie gemeinsam Lianes Eltern besuchen. In Frankfurt angekommen, ließ sie Linienbusse und Straßenbahnen an sich vorüber fahren und lief zu Fuß in Richtung Innenstadt. Sie war so beschwingt und fröhlich und als sie in die Straße, wo Martin wohnte einbog, hüpfte ihr Herz vor Freude.
Aber dann, fast vor seiner Haustür angekommen, sah sie ihn, wie er mit einer attraktiven Frau aus dem Gebäude kam. Eng umschlungen und sich strahlend anlächelnd, schienen sie niemanden sonst zu bemerken. Liane ertrug diesen Anblick nicht lange und änderte abrupt ihre Richtung.
Eine Ewigkeit irrte sie ziellos durch die Straßen, bis sie wieder am Bahnhof angekommen war. Menschen eilten an ihr vorbei, irgendwo spielte jemand Geige, aber all das nahm Liane nicht zur Kenntnis. Schließlich stieg sie in den nächsten Zug, der in den Bahnhof einfuhr und ließ ihren Tränen nun freien Lauf.

Sie registrierte kaum, als die Bahn sich in Bewegung setzte, schaute nicht auf, wenn sie wieder hielt und kurz darauf ihren Weg fortsetzte. Inzwischen war es schon fast Abend geworden. Sie sah aus dem Fenster und konnte nichts erkennen, alles schwarz, nur wage Konturen, ein paar schwache Lichter in der Ferne. Sie war allein hier im Wagon, kein anderer Fahrgast war da. Nur in der letzten Reihe saß eine Frau in Uniform, die jetzt gerade aufsah, Liane zulächelte und ihr zurief „Kopf hoch, das wird schon wieder. Frohe Weihnachten.“
Liane sah sie verständnislos an. Weihnachten, oh nein, nie wieder wird es für mich ein Weihnachtsfest geben, dachte sie bei sich. Sie steckte ihre Hände tief in die Manteltaschen und sah wieder aus dem Fenster. Die rechte Hand erfasste ein Stück Papier und als sie das kleine Blatt entfaltete, schossen ihr plötzlich wieder Tränen in die Augen. Es war aus, alles zu Ende.

Die Durchsage tönte wie aus weiter Ferne an Lianes Ohren, verstanden hatte sie sie nicht. Der Zug kam langsam zum stehen. Sie lenkte ihren Blick an die Stelle, wo eben noch die Frau in Uniform gesessen hatte, der Platz war leer. Kalte Luft sprang sie an, die Abteiltür stand weit offen. Ein Mann steckte den Kopf herein. „Junge Frau, Endstation für heute, bitte steigen sie aus, die Fahrt endet hier.“ Wie in Trance erhob sich Liane von ihrem Platz, ging zur Tür und stieg über die kleine Rampe aus. Es hatte angefangen zu schneien und nur mit Mühe konnte sie lesen, was auf dem Bahnhofsschild geschrieben stand: „Neuzelle”.

Ein schwaches Licht ließ sie den Weg über die Gleise zum Bahnhofsvorplatz finden, ansonsten war es stockfinster. Laut Fahrplan, der hier aushing, fuhr heute kein Zug mehr. Sie schaute nach rechts, dann nach links. Eine Straße führte offensichtlich in einen Ort und auch wieder hinaus. Was sollte sie jetzt tun? Ihr wurde bewusst, das sie keine Idee hatte, wie sie hier wieder weg kommen sollte. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, es war doch sowieso alles egal jetzt.

Der frische Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer leichten Stiefeletten. Der dünne Mantel bot keinen ausreichenden Schutz gegen die kalte Winterluft, aber Liane bemerkte es kaum. Sie neigte den Kopf etwas tiefer und ging einfach immer weiter geradeaus. Die Straße führte durch ein kleines Dorf, an ihre Rändern stand ein Haus neben dem anderen, nahezu ein jedes von warmem Licht erleuchtet.
Die Menschen hier feierten den heiligen Abend, wie überall auf der Welt. Mit ihren Lieben, mit Kindern, Eltern, Enkeln und Verwandten, Freunden und Nachbarn. Keine Seele begegnete Liane auf ihrem Weg. In einiger Entfernung konnte sie die Umrisse eines großen Gebäudes erkennen, hell und festlich mit Lichtern geschmückt. Weil sie direkt neben einem Hinweisschild stand, konnte sie dort lesen: „Kloster Neuzelle“.
Ihr Gesicht war nun fast erstarrt, der Blick ausdruckslos. Eine Tür auf der anderen Seite der Straße öffnete sich und ein Mann mit Hund trat aus dem Haus. Er bemerkte Liane und rief ihr zu: „Frohe Weihnachten“, aber Liane reagierte nicht darauf. Es war so still hier draußen, nur wenn man ganz genau hinhörte, konnte man aus dem einen oder anderen Haus Stimmen, Musik und Gelächter vernehmen. Dann, einige Meter weiter, gab es plötzlich eine Explosion, grelles Licht zuckte auf, ein paar Jugendliche grölten dazu.
Liane blieb wie angewurzelt stehen, sie war mächtig erschrocken. Sie suchte Schutz an einer Hauswand, tastete sich vor bis zu einer Tür und drückte hastig auf die Klinke. Sie trat ein und fand sich in einer Hotelhalle wieder.

An der Rezeption hob ein älterer Herr müde den Kopf und sah Liane fragend an. Sie wollte etwas sagen, aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Der Mann hinter dem Tresen straffte sich und bellte ihr entgegen: „Wir sind ausgebucht.“
Liane zuckte abermals zusammen, schüttelte sachte den Kopf und versuchte, Fassung zu gewinnen. Genau in diesem Augenblick fing es in ihrem Magen an zu grummeln, ihr schien, als müsste man es im ganzen Raum hören.
Könnte ich bei ihnen etwas essen ?“, fragte sie schüchtern. Der Mann an der Rezeption verzog sein Gesicht und brachte ein falsches Lächeln zustande. „Bedaure, unsere Küche hat schon geschlossen.“
Liane schaute den schmalen Gang, der sich an die Halle anschloss, entlang. Genau in diesem Moment trat aus einer Tür ein Kellner mit einem Tablett, auf dem er Geschirr geladen hatte. Er lief den Gang entlang und trat durch eine weitere Tür in einen Raum und man konnte nun Menschen mit Besteck und Gläsern hantieren hören. Liane sah den Portier fragend an und der beeilte sich zu sagen: „Eine geschlossene Gesellschaft.“
Können sie mir sagen, ob ich anderswo noch etwas bekommen kann?“, fragte Liane.
„Da werden sie kein Glück haben“, bekam sie zur Antwort.

Liane wandte sich dem Ausgang zu und trat wieder hinaus auf die Straße. Der Schnee fiel jetzt in dicken Flocken auf die Erde, sie zog den Mantelkragen enger und vergrub ihre Hände tief in den Taschen. So setzte sie ihren Weg durch das Dorf fort.
Nun gabelte sich die Straße, auf einer kleinen Mittelinsel thronte ein Denkmal. Sie entschied, rechts weiter zu gehen, es war auch egal, da sie sich eh nicht auskannte. Hier war die Fahrbahn breiter und ab und zu fuhr ein Auto an ihr vorbei. Auch hier waren die Häuser weihnachtlich geschmückt und teilweise festlich erleuchtet, doch Liane registrierte es kaum. Sie entschied, die Straßenseite zu wechseln und nahm unbewusst einen Seitenweg, der leicht aufwärts führte.
Noch nie hatte sie sich so dermaßen einsam und verlassen gefühlt, wie jetzt gerade, wo sie niemanden kannte, nicht wusste, wo sie war und wo hin sie gehen sollte. Warum nur war sie in den falschen Zug gestiegen? Sie könnte schon lange zu Hause sein, in ihrer kleinen Wohnung, im warmen und trocknen. Was sollte denn jetzt werden, sie konnte doch unmöglich einfach immer weiter laufen. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf und sie achtete nicht mehr auf den Boden unter ihren Füssen. Ob ich einfach irgendwo anklopfen soll, fragte sie sich, aber in diesem Moment rutschte sie auch schon auf dem gefrorenen Stück Weg aus. Hart schlug sie mit der Stirn auf den kalten Boden, spürte den Schmerz und verlor anschließend die Besinnung.

Eine weiße Katze jammerte kläglich vor der Tür eines recht baufälligen Hauses. Der Bewohner, ein alter Mann, hörte sie von drinnen und öffnete einen Spalt weit. „Wo hast du dich auch wieder rumgetrieben? Jetzt ist dir kalt und Hunger hast du sicher auch, komm schnell rein.“ Die Katze schlüpfte ins Innere des Hauses und der Alte wollte die Tür gerade wieder schließen, als er Liane liegen sah. Er erschrak mächtig und überlegte kurz, was er machen sollte. Dann entschloss er sich, näher heran zu gehen.
Er beugte sich über Liane, fasste sie am Ärmel und flüsterte: „Hallo, junge Frau, was ist mit ihnen passiert, können sie mich hören?“
Wie von weit her vernahm Liane seine Stimme, sie schlug die Augen auf und griff sich an die Stirn. Schmerzverzerrt sah sie zu dem Mann auf. „Wo bin ich?“ Der Mann trat einen Schritt zurück. „Sie sind verletzt, können sie aufstehen?“ Liane stützte sich mit den Armen auf, blieb aber am Boden sitzen. „Kommen sie, es ist zu kalt, sie müssen aufstehen.“ Er reichte ihr seine Hand und Liane griff zu. Aufzustehen war mühsam, sie fühlte sich total kraftlos und schwankte ein wenig. Der Alte wollte sie stützen und musste dabei selber aufpassen, das er nicht ins straucheln geriet.
Als Liane wieder auf ihren Beinen stand, zog der Alte sofort seine Hand zurück. „Nun geht’s ja wieder“, murmelte er mehr vor sich hin, als zu Liane gewandt, drehte sich um und ging durch die kleine Gartenpforte zurück auf sein Grundstück.

Nachdem Liane erst an sich herunter geblickt hatte, sah sie nun auf und dem Mann hinterher. Der drückte gerade die Haustürklinke herunter und wollte im Haus verschwinden. „Warten sie doch, ich hab mich noch gar nicht bei ihnen bedankt“, rief sie ihm zu.
Schon gut, alles gut. Geh´n sie, gehen sie bitte weiter, es ist ja nichts schlimmes passiert, oder?“, sagte er.
Liane fasste abermals an ihre Stirn, die noch immer blutete und weh tat. „Ich blute leider noch“, sagte sie etwas wehleidig. Der Alte brummte etwas unverständliches vor sich hin, kam aber doch zurück und trat nahe an Liane heran.
Lassen sie mal sehen.“ Seine alte Hand zitterte ein wenig, als er sachte eine Haarsträhne beiseite schob. „Hm, sieht wirklich nicht gut aus.“ Er machte dabei ein so bekümmertes Gesicht, als hätte er selber Schmerzen.
„Hätten sie vielleicht eine Binde oder ein Pflaster im Haus, damit die Blutung stoppt? Ich kann das ja so nicht lassen und einen Arzt werde ich jetzt wohl kaum finden.“
Der Alte kratzte sich am Kinn und man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Liane tat ihm schon leid und er wusste, er müsste wohl auch helfen, aber er wollte sie nicht ins Haus bitten. Seit unzähligen Jahren hatte niemand mehr sein Haus betreten, genau genommen, seit seine Maria, seine geliebte Frau gestorben war. Seit jenem Tag war nichts mehr wie vorher, er konnte es einfach nicht verwinden, dass sie nicht mehr da war und nie mehr wieder kommen würde.
Mitten in seine Grübeleien fing Liane plötzlich an zu taumeln und sackte auf ein mal zu Boden.

„Fräulein, oh nein, was mach ich nur?“ Der Alte erschrak fürchterlich und kniete neben Liane nieder. „Aufwachen, bitte, sie können hier nicht liegen bleiben“, sprach er mit großer Verzweiflung in der Stimme. Er sah sich suchend um. Da, eine alte Plane, da könnte er Liane erst drauf rollen und dann ins Haus ziehen.
Er stand auf und ging zwei Schritte in den dunklen Garten, die Plane hing über einem der Äste. Er griff nach ihr, ging zurück zu Liane und rollte sie tatsächlich auf die Plane, die er dicht neben sie auf dem Boden ausgebreitet hatte. Dann zog er mit aller Kraft den leblosen Körper auf sein Grundstück, den schmalen Weg zum Haus entlang und so vorsichtig, wie er es vermochte, durch die Türöffnung in den Flur des Hauses. Kaum war das letzte Stück der Plane drinnen, zwängte er sich an Liane vorbei, sah sich draußen hektisch um und drückte die Tür hastig zu.

Es war fast dunkel im Haus, nur aus dem Zimmer gleich links hinter der Haustür fiel ein schwacher Lichtschein in den Flur. Der Alte kratzte sich am Kinn und grübelte ein weiteres mal. Er konnte Liane unmöglich weiter durch das Haus schleifen, er kam mit dieser ungewöhnlichen Last nicht voran.
Überall, auf fast jeder Fläche des Zimmers, standen oder lagen Dinge, Zeitungsstapel, alte Kartons, nach Größen sortiert, ineinander gesteckt. Hier eine Obstkiste, gefüllt mit sorgfältig ausgespülten Gläsern, von Marmelade, Leberwurst und Kompott. Da ein Häufchen Plastiktüten, ebenfalls nach Größen sortiert, direkt daneben ein Karton mit trockenen Zweigen aus dem Garten. Auf dem einzigen Sessel im Zimmer lagen alte Illustrierte, davor ein Stapel Bücher, ebenfalls alt und verschlissen. Der Tisch war als solcher nicht mehr zu erkennen, auf ihm standen neben Kerzenstummeln, gefalteten Tetra-Packs und einem Kästchen voller Einkaufsbons, noch ein paar benutzte Teller und Tassen, eine Kaffeedose und ein alter Atlas. An den Wänden alte Zeitungsausschnitte, vergilbte Bilder, ein Bücherregal, das sein Last kaum noch tragen konnte und drohte, jeden Moment in sich zusammen zu fallen. Ein kleiner Allesbrenner in der einen Ecke des Raumes, in dem es zischte und knisterte. Licht kam vom Weihnachtslichterbogen, den der Mann ins Fenster gestellt hatte, ansonsten gab es nur noch eine Klemmleuchte, am Bücherregal befestigt und jetzt nicht eingeschaltet.

Er sah wieder hinunter zu Liane, die sich jetzt zu bewegen begann. Sie stöhnte ein wenig, was den Alten daran erinnerte, etwas zu unternehmen. Pflaster, wo sollte er eines herbekommen?
Seine geliebte Maria, ja die hatte so etwas immer sofort zur Hand, wenn man es brauchte. Anfangs, als hier im Haus noch eine gewisse Ordnung herrschte, als Maria gerade erst von ihm gegangen war, hatte er noch all diese Dinge gefunden. Bei der Gartenarbeit verletzte man sich auch schon mal und benötigte Verbandszeug, da genügte ein Griff und er fand das Gewünschte.
Aber jetzt ... wo sollte er nur suchen? Wieder sah er zu Liane hinüber, die jetzt immer unruhiger wurde und sich schon suchend im Zimmer umsah. Er stieg über ihren Körper hinweg und ging ins gegenüberliegende Schlafzimmer, ein Raum in dem es nicht besser aussah als im Wohnraum. Das alte Ehebett, bis auf einen schmalen Streifen beladen mit Wäsche, zwei Koffern, Bücher. An der Wand gegenüber eine alte Kommode. Er zog die oberste Schublade auf und griff hinein. Socken, alte Brillen, ein Lesezeichen und eine kleine Schachtel, die er hervorzog und öffnete. Tatsächlich befanden sich ein paar Pflaster darin, nicht mehr ganz taufrisch, aber noch brauchbar. Erleichtert nahm er die Schachtel an sich und ging wieder dorthin, wo Liane noch immer auf der alten Plane am Boden lag.

Umständlich entfernte er die Schutzfolie eines der größeren Pflaster und platzierte es über die Wunde an Lianes Stirn. Die erwachte nun endgültig und erschrak, als sie den alten Mann so dicht über sich gebeugt erblickte. Ruckartig versuchte sie nun, sich aufzurichten, blieb einen Moment sitzen und schaute sich um. „Wo bin ich, haben sie mich hier her geschafft?“
Der Alte nickte bekümmert: „Ich konnte sie ja schlecht draussen liegen lassen, sie waren ohnmächtig.“
Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen“ sagte Liane und richtete sich nun vollends auf. „Ich wollte ihnen keine Umstände machen, es tut mir leid.“
„Schon gut“, murmelte der Alte vor sich hin. Gleichzeitig überlegte er, wie er Liane wieder los werden konnte. Nicht das er roh und gefühlskalt war, nein, das war es nicht. Aber er wollte lieber allein für sich sein, besonders an diesem Abend. Seine Maria fehlte ihm an jedem Tag seines Lebens, aber zu dieser Zeit, zu Weihnachten, spürte er seinen Verlust doppelt. Wie schön hatte sie immer das Haus hergerichtet, alles blitzblank geputzt, jeden Raum wunderschön dekoriert, alles war so heimelig. Jedes Jahr gab es am heiligen Abend selbstgemachten Kartoffelsalat und feine Wiener Würstchen. Am ersten Feiertag dann eine Gans mit Grünkohl und Klößen. Und am zweiten Festtag dann Rinderrouladen mit Gemüse.

Heute hatte er nur ein wenig Brot im Haus und eine Salamiwurst, mehr brauchte er nicht, er hatte schon lange kaum noch Appetit und aß nur, wenn es unbedingt sein musste. Jetzt überlegte er, ob er dieser jungen Frau etwas anbieten sollte. „Ich habe nicht viel da, Wurst und Brot. Soll ich ihnen was bringen?
Liane sah ihn an und bemerkte wohl, das er sehr zögerlich sprach. Es war ihr unangenehm hier zu sein und sie sagte: „Ich mache mich wohl besser wieder auf den Weg, ich merke ja, das es ihnen nicht recht ist, das ich hier bin. Trotzdem danke ich ihnen, das sie sich um mich gekümmert haben.“
Damit griff sie nach ihrer kleinen Handtasche, die auf dem Tisch lag, hängte sie sich über die Schulter und drehte sich zur Tür. Der Alte sah ihr zerknirscht zu, auch ihm war nun nicht wohl in seiner Haut und das schlechte Gewissen plagte ihn.
Wo wollen sie denn hin, heute am Weihnachtsabend, haben sie hier Familie?“ Liane drehte sich zu ihm um, ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie sagte: „Familie, nein die hab ich hier nicht.“
„Ich bin versehentlich in einen falschen Zug gestiegen und der hat dann hier in diesem Ort gehalten und heute fährt kein anderer mehr zurück. Ich dachte, ich könnte irgendwo ein Zimmer nehmen, aber der Gasthof im Dorf ist ausgebucht. Jedenfalls sagte das der Portier. Da bin ich einfach losgelaufen, vielleicht, dachte ich, finde ich noch eine andere Möglichkeit. Dann kam ich hier an ihrem Haus vorbei und bin direkt davor auf dem vereisten Weg gefallen.“
Sie werden hier kein Zimmer mehr bekommen, Neuzelle ist über die Feiertage immer rappeldicke voll. Außerdem führt dieser Weg hier aus dem Dorf heraus, nicht weit von hier kommt das Gewerbegebiet und dann nur noch Wald und Landstraße.“
Liane sah ihn müde an. „Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?“, fragte sie.
Etwa sieben Kilometer“, antwortete der Mann.
„Ich könnte mir ein Taxi rufen.“ „Da werden sie sicher auch kein Glück haben, das geht hier an so einem Abend nur mit Vorbestellung“, sagte der Alte.
Liane sah ihn entsetzt an. „Das heißt, ich komme hier heute nicht mehr weg?“
„Es sieht ganz danach aus“, war seine Antwort.
Liane ließ den Kopf und die Schultern sinken, dann sah sie den Mann traurig an. Der blickte sich in dem Zimmer um, hob mit einer hilflosen Geste beide Arme und sagte dann: „Es ist eine Ewigkeit her, das hier jemand übernachtet hat. Ich bin darauf nicht mehr eingestellt, sie sehen doch selbst.“

Liane hatte natürlich schon längst bemerkt, welche Zustände in diesem Haus herrschten. Es war nicht nur schmutzig und stickig hier drinnen, der Mann war ein Messi wie er im Buche stand. Dennoch, trotz des augenscheinlichen Chaos, hatte er eine eigenwillige Ordnung für sich entwickelt. Und er sammelte Dinge, die wohl für niemand anderen einen Sinn ergeben würden, das war typisch für Menschen, die man mit dem Begriff Messi belegte. Normalerweise würde sie im Leben nicht auf den Gedanken kommen, einen solchen Haushalt auch nur zu betreten, geschweige denn, hier übernachten zu wollen. Aber was blieb ihr jetzt und hier für eine Wahl?
Bitte, ich würde sie nicht fragen, wenn es nicht so kalt draußen wäre. Da könnte ich auf dem Bahnsteig oder sonstwo schlafen.“ Der Alte war in einer echten Zwickmühle, was sollte er nur tun ? Er brummte mehr als dass er sprach: „Ich könnte versuchen, etwas Platz zu schaffen.“
Liane sah in unsicher an: „Wenn sie es möchten, kann ich helfen?“
Oh nein, sie würden mir alles durcheinander bringen, das muss ich alleine machen“, wehrte er heftig ab. Seine Worte klangen erst zornig und zum Ende fast weinerlich, Liane fühlte sich unwohl, wie schon lange nicht mehr. Versöhnlich versuchte sie es: „Verzeihen sie mir, ich hab mich ihnen ja noch gar nicht vorgestellt, ich heiße Liane“, dabei streckte sie ihm die Hand entgegen.
Er ergriff sie und erwiderte: „Mein Name ist Bruno Reich, freut mich.“
Na, das nehme ich dir nicht ganz ab, dachte Liane bei sich, aber was soll`s. Dann schaute sie sich noch einmal im Zimmer um und versicherte dem Alten: „Ich will hier bei ihnen sicher nichts durcheinander bringen. Sagen sie mir doch einfach, was ich tun kann.“
Nun sah sich auch Bruno Reich im Raum um. „Setzen sie sich man hier auf den Sessel“, und dabei hob er den Stapel Zeitungen auf und trug sie in eine Zimmerecke. Liane setzte sich gehorsam, klemmte die Handtasche neben sich und wartete ab.

Dann kam er wieder näher, ging umständlich um den Tisch herum und hob eine dicke Wolldecke an. Liane schielte herüber, tatsächlich, da kam eine Couch zum Vorschein. Sie hatte den komischen Berg schon wahrgenommen, aber nicht weiter drüber nachgedacht. Allerdings lagen auch da etliche Dinge, die normalerweise nicht dort hingehörten. Eine Obstkiste mit sauber gespülten Konservendosen, weitere Stapel Zeitungspapier, mindestens zwanzig Zangen aller Größen und eine Schachtel Nägel. Der Mann sah ratlos aus. „Wenn ich dafür einen anderen Platz finde, könnten sie hier schlafen.“
Oh, das wäre wirklich sehr freundlich von ihnen“ antwortete Liane schnell.
„Sachte, bitte drängen sie mich nicht“, kam es scharf von ihm zurück. Liane schluckte, wäre sie nicht in dieser äußerst blöden Lage, würde sie wohl jetzt aufstehen und gehen. Der Mann griff nach der Decke und legte sie wieder über das Sammelsorium.
„Ich hole uns erst einmal was zu essen“, sagte er, um Zeit zu gewinnen. Dann schlurfte er aus dem Zimmer.

Liane hatte irgendwo gelesen, das Menschen mit dem Messi-Syndrom niemanden mit ihrem Tick ärgern wollten, sie konnten einfach nicht aus ihrer Haut und brauchten Hilfe, um ihr Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. Wer weiß, wie es bei diesem Mann dazu gekommen war? Ob er selbst wusste, was mit ihm nicht in Ordnung war? Sie wollte sich keinesfalls einmischen, es war doch nur ein Zufall, das sie hier bei ihm gelandet war. Notfalls bleibe ich die Nacht über in diesem Sessel sitzen und mache mich gleich am nächsten Morgen auf den Weg zum Bahnhof. Irgendwann musste ja wieder ein Zug fahren.

Da kam der Alte schon wieder zurück, er trug ein Brettchen, auf dem eine Wurst lag, ein Messer und ein Brotlaib. Lianes Blick fiel auf den Tisch vor sich. „Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf den Haufen Tetrapacks. Der Alte nickte und sie hob den Packen an und legte ihn neben sich auf den Boden. Bruno Reich legte nun das, was er in Händen hielt, auf den freien Platz auf den Tisch. Wieder kratzte er sich am Kinn. „Sie wollen sicher Butter, oder?“
Nur wenn es keine Umstände macht“, sagte Liane. Er drehte sich wieder zur Tür und verließ noch einmal das Zimmer, kehrte aber schnell mit einer Butterdose aus Porzellan zurück.
„Die sieht aber schön aus“, versuchte Liane wieder, mit ihm ein Gespräch zu beginnen. „Die gehörte meiner Schwiegermutter, echtes Zwiebelmuster“, gab er Auskunft. Dann begann er, die Salamiwurst in dicke Scheiben zu schneiden, schnitt auch Brot ab und reichte Liane das Messer. Die strich sich etwas von der Butter auf das Brot und legte ein paar Scheiben von der Wurst darauf.
Bruno aß die Wurst zum trocknen Brot. Dabei war er neben dem Tisch stehen geblieben und aß im Stehen. Liane wollte spontan fragen, ob er nicht noch einen Stuhl hätte, aber sie verkniff es sich, das könnte ihn wohl wieder in Schwierigkeiten bringen. Plötzlich legte er das Brot aus der Hand, sah sich um und griff hinter den dicken Vorhang, der vor den Fenstern hing. Er holte einen hölzernen Klappstuhl hervor und setzte sich an den Tisch.
Is wohl gemütlicher“, brummte er und Liane nickte ihm zu. Einen Augenblick später fragte sie ihn: „Hätten sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?“
Er sah sie an, als überlegte er, was er gehört hatte. Dann stand er auf und verließ nochmals das Zimmer, um gleich darauf mit einer Flasche und einem Glas zurück zu kehren. „Das ist Apfelsaft, ich hoffe, sie mögen ihn.“ Er goss auch gleich ein und schob ihr das Glas zu. „Vielen Dank“, sagte Liane und trank fast gierig das Glas leer.

„Hören Sie, Herr Reich, ich könnte doch hier in diesem Sessel sitzen bleiben, ich bin so müde, das es mir nichts ausmachen würde“, sagte Liane nach einer Weile.
Der Alte sah sie bekümmert an: „Auf alle Fälle kann ich sie ja wohl schlecht auf die Straße zurück jagen. Wie konnte es denn nur passieren, das sie hier in unserem Dorf gelandet sind?“
Ich sagte ja schon, ich bin in den falschen Zug gestiegen. Ich war so durcheinander und hab nicht aufgepasst.“ Liane bemerkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten und sie drehte den Kopf zur Seite. „Entschuldigung, ich will sie mit meinem Kram nicht behelligen.“
„Schon gut“, sagte der Alte da, „mir ist auch manchmal zum heulen, besonders jetzt, zu Weihnachten.“

Und dann fing er an zu erzählen, von seiner Maria, wie schön die Zeit ihrer Ehe war, obwohl sie kinderlos geblieben ist. Wie sie viele schöne Jahre in diesem Dorf und in diesem Haus gelebt hatten und wie Maria dann plötzlich sehr krank wurde. Das war jetzt fast genau drei Jahre her und seit dem Tag ihres Todes, war er aus der Spur geraten.
Sie hatten immer schon sehr für sich gelebt, hatten wenig Kontakt zu den Nachbarn, waren sich immer selbst genug gewesen. Maria konnte wunderschön zeichnen, liebte den kleinen Garten und kochte und backte für ihren Bruno von Herzen gern.
Er arbeitete als Brauer in der ortsansässigen Klosterbrauerei und erledigte nach Feierabend alle anfallenden Arbeiten in Haus und Garten. Mit ihrem kleinen Auto fuhren sie in der Gegend umher, besuchten Ausstellungen, gingen ins Theater oder Kino, es war ihnen nie langweilig. „Ich habe auch noch all ihre Sachen aufgehoben, konnte nichts davon wegwerfen, ist das nicht verrückt?“
Er sah Liane traurig an und die griff zaghaft nach seiner alten, faltigen Hand, die er auf den Tisch gelegt hatte.
Das tut mir sehr leid für sie“, sagte sie leise.
„Wenn man fast sein ganzes Leben mit ein und dem selben Menschen verbracht hat, ist es nicht leicht, wenn der nicht mehr da ist“, sagte er mit leerem Blick. Eine Weile saßen sie so schweigend, ein jeder in seine Gedanken versunken. Dann schaute der Alte Liane an und fragte: „Haben sie einen Mann oder Familie?“
Liane spürte, wie ihr wieder die Tränen kamen und mit einem dicken Kloß im Hals antwortet sie: „Ich hatte einen Freund, bis heute morgen, es ist vorbei, einfach so, er hat eine andere.“
Jetzt streichelte der alte Mann ihre Hand und sagte: „Aber, aber, vielleicht renkt sich ja doch alles wieder ein. Sie lieben ihn doch, oder?“
Liane schüttelte heftig den Kopf. „Nein, da renkt sich nichts wieder ein, ich habe ihn mit einer Frau gesehen, wie sie gemeinsam aus seiner Wohnung kamen, eng umschlungen und sehr verliebt, richtig ekelhaft war das“, antwortet sie und sah dabei so unglücklich aus, das der Alte nicht wusste, was er raten sollte.
Sie sind noch jung, da können noch viele Prinzen kommen“, sagte er, war sich aber sicher, das das kein Trost sein konnte.

Liane griff in ihre Manteltasche und legte das zerknüllte Stück Papier vor sich auf den Tisch. Mit einem warmen Lächeln faltete sie es auseinander und sah den Alten an. „Da, sehen sie, es hätte alles so schön sein können.“
Bruno griff nach dem Papier und schaute lange darauf, dann sah er Liane an und fragte „Ist das ein Ultraschallbild, so eines, worauf man ein Baby erkennen kann?“ Liane nahm das Bild wieder an sich. „Ja, das ist unser, nein, mein Kind“, sagte sie fast trotzig.
Aber wollen sie es ihm denn nicht sagen, ich meine, das er Vater wird?“, fragte Bruno.
„Nein, niemals. Und es würde ja auch nichts ändern, er hat sich anders entschieden, ich habe es doch gesehen.“
Versonnen schaute der Alte vor sich auf die Tischplatte. „Maria und ich wollten nie Kinder, ein Entschluss, den wir beide gemeinsam gefasst hatten. Aber heute denke ich manchmal, ob es nicht auch schön wäre, einen Sohn oder eine Tochter zu haben.“
Liane steckte das Stück Papier wieder zurück in ihre Manteltasche.
Ich will nicht, das er nur wegen dem Kind bei mir bleibt. Und wer weiß, vielleicht würde er es ja auch vorziehen, lieber zu zahlen und will ansonsten seine Ruhe vor mir und dem Kind. Ich würde ihm auch nie wieder vertrauen können. Hätten sie ihrer Frau eine Affäre verziehen?“
Der Alte rieb sich mal wieder das Kinn, ziemlich heftig sogar. Lange sagte er kein Wort und Liane bereute schon, gefragt zu haben, es ging sie ja auch wirklich nichts an, dachte sie.

Aber dann fing er doch an zu sprechen.
„Es war ganz zu Anfang, bald nach dem wir uns gefunden hatten. In der Brauerei hatte eine neue Lohnbuchhalterin angefangen, ein hübsches Mädel und gar nicht schüchtern, im Gegenteil. Sie gefiel mir sehr und nicht nur mir, fast alle Kollegen machten ihr, mehr oder weniger den Hof, so sagte man damals. Sie sind ja noch jung und bei ihnen sagt man sicher anders dazu, wenn ein paar Kerle völlig aus dem Häuschen sind, sobald eine attraktive Frau auftaucht.
Wie dem auch sei, ich erzählte meiner Maria nichts von der Frau, die auf der Arbeit allen den Kopf verdrehte, obwohl selbst die Kunden schon davon Wind bekommen hatten, weil sogar der Chef ganz begeistert von ihr schwärmte. Wenn sie durch die Hallen unserer Brauerei ging, ließen die Männer Arbeit Arbeit sein, sie raunten und pfiffen ihr hinterher, aber sie lächelte nur und genoss den Trubel um ihre Person ganz offensichtlich. Und wie es der Zufall wollte, alle hatten schon Feierabend, nur ich hatte mich mit dem Pförtner ein wenig verplauscht, da stand sie plötzlich vor uns und sagte mit einem umwerfenden Lächeln, das ihr Auto nicht anspringen würde, und fragte, ob ich mal nachsehen könnte. Der Pförtner schmunzelte und ich glaube, das ich sogar rot geworden bin, das war peinlich, aber ich ging mit ihr zum Parkplatz.
Dann öffnete ich die Motorhaube, ein kleiner Schlauch war abgesprungen und hing nun frei herum. Ich setzte ihn an die richtige Stelle und bat die Frau, den Wagen zu starten. Er sprang sofort an und ich war froh, das es nur eine Kleinigkeit war, was ihm gefehlt hatte.
Sie aber sprang aus dem Auto, war in Null Komma Nix neben mir und sprang mir um den Hals, ja sie küsste mich, völlig aus dem Häuschen, überall im Gesicht, auf den Mund, die Augen. Ich hätte im Erdboden versinken wollen, aber sie hörte gar nicht auf, mit ihrem Gejubel und Geküsse. Schließlich konnte ich mich doch befreien und lief schnell zu meinem Wagen, startete und fuhr nach Hause.

Maria und ich wohnten damals noch nicht zusammen, sie hatte ein Zimmer bei einer alten Dame hier im Dorf und ich wohnte einen Ort weiter. Aber wir waren schon verlobt und wollten bald heiraten. Wir sahen uns meist nur am Wochenende und erst nach der Hochzeit und als wir hier unser kleines Haus bezogen, verbrachten wir auch die Nächte miteinander. Ich hatte den Vorfall mit der Bürodame schon wieder vergessen.
Eines Abends lief im Fernsehen eine Komödie, da sagte Maria plötzlich zu mir: „Ich hab heute euren Pförtner im Dorf getroffen.“
Ich sah sie kurz an und dann wieder in der Fernsehapparat. „Schön, sicher war er einkaufen“, antwortete ich.
Allerdings, er wollte in die Parfümerie, ein Geschenk besorgen“, sagte Maria.
„Hm, auch gut“, war meine knappe Antwort. Maria griff zu den Salzstangen, die auf dem Tisch vor uns standen. „Er sah sehr glücklich aus. Und er erzählte, das er sich verloben würde.“
„Ach, mit wem denn?“, fragte ich, obwohl mich das eigentlich nicht sonderlich interessierte.
„Mit der hübschen jungen Frau aus eurer Lohnbuchhaltung, hast du das nicht gewusst?“
„Nein, woher denn?“, gab ich zurück.
„Er hat mir auch erzählt, wie die zwei sich näher gekommen sind“, bohrte Maria ein bisschen weiter.
Der Fernsehfilm war gerade so lustig und ich fühlte mich ein wenig gestört, darum sagte ich etwas mürrisch: „Was geht mich das an, wie die sich gefunden haben?“
Nun, immerhin hast du maßgeblich dazu beigetragen“, war Marias amüsierte Antwort.
„Quatsch, was hab ich denn mit den beiden zu tun?“, antwortete ich.
Maria machte dieses Frage-Antwortspiel sichtlich Vergnügen und sie fragte: „Erinnerst du dich denn nicht an den Tag, als ihr Auto streikte?“
Mir wurde auf einmal ganz heiß, ich muss wohl sehr dumm ausgesehen haben, jedenfalls sagte Maria dann auch noch: „Ach ihr Männer, manchmal seid ihr wirklich schwer von Begriff.“
Was meinst du damit“, fragte ich nun etwas ärgerlich. Ich wollte mich nicht streiten, aber das wurde mir nun doch zu dumm. Schlimm genug, das ich mich an diesen Tag erinnern musste. Jetzt befürchtete ich auch noch, das der Pförtner meiner Maria alles erzählt haben könnte. Wie die Frau an meinem Hals gehangen hatte, mich geküsst hatte und ich förmlich die Flucht ergreifen musste. Wie sollte ich ihr das erklären?
Aber da sprach sie auch schon weiter. „Er hat mir erzählt, wie sie damals, als sie neu in der Firma angefangen hatte, allen Männern den Kopf verdreht hat, allerdings ohne es zu wollen. Ganz unangenehm war es ihr wohl nicht, aber sie hatte an keinem wirklich Interesse. Außer an einem, aber der bemerkte es nicht. So oft sie auch versuchte, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, es wurde nichts daraus.
Wer soll denn der Glücklich gewesen sein“, fragte ich, nun doch neugierig geworden.
„Na der Pförtner“, sagte Maria mit fröhlichem Lachen. „Und dann hat sie zu einer List gegriffen. Sie blieb etwas länger als die restliche Belegschaft im Betrieb und hoffte, mit ihm allein zu sein. Aber da warst du, mit dem Mann in ein Gespräch vertieft und sie sah schon wieder ihre Chance schwinden.
Sie löste an ihrem Auto irgendeinen Schlauch, kam wieder zu euch und bat dich um Hilfe. Und du hast den Fehler auch sehr schnell gefunden und sie beschloss jetzt, aufs Ganze zu gehen. Sie hat sich bei dir überschwänglich bedankt und gehofft, das der Pförtner nun endlich so richtig eifersüchtig werden würde. Und es hat geklappt. Dir war die Sache wohl sehr peinlich, sagte der Pförtner, aber ihm sei plötzlich klar geworden, das er diese Frau unbedingt näher kennenlernen wollte.
Sie haben an diesem Abend noch sehr lange geredet und sind anschließend sogar noch essen gegangen. Seit dem sind sie ein Paar, haben sich aber geeinigt, das in der Firma nicht publik zu machen. Bis heute, denn ihre Verlobung wollen sie schon bekannt geben. So ein bisschen stolz ist der Gute dann doch, das die hübsche Frau ihn erwählt hat. Besonders, weil er bis zu dem Tag mit dem Täuschungsmanöver, nichts von ihren Bemühungen bemerkt hatte.“
Aber bist du jetzt nicht böse, weil ich dir von dem Tag nie was erzählt habe?“
Maria sah mich liebevoll an: „Aber Bruno, du wirst deine Gründe gehabt haben. Sicher hast du befürchtet, ich würde dir nicht glauben. Und wer weiß, vielleicht hättest du doch eines Tages davon gesprochen, was weiß ich?“
Das ist jetzt alles schon so lange her“, sagte der Alte und sah Liane dabei an, „wir hatten trotz allem eine wundervolle Ehe. Meine Maria war eine kluge Frau.“

Liane hatte ihm die ganze Zeit aufmerksam zugehört und dabei, ohne das sie es selber merkte, wieder auf das Ultraschallbild ihres Kindes gesehen.
Was wollen sie mir damit eigentlich sagen?“, fragte sie den Alten.
„Das kann ich ihnen sagen, junge Frau. Zum Einen sollte man nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, nicht alles, was man sieht, ist auch so, wie es scheint. Zum Anderen wäre es vielleicht klug, einfach mal abzuwarten, wie sich alles entwickelt. Wissen sie die Hintergründe, warum sie ihren Freund in dieser Situation angetroffen haben ? Warum glauben sie nicht an ihn, wenn sie doch sein Kind unter dem Herzen tragen ? Vielleicht gibt es eine Erklärung für alles?“
„Ach ja? Was soll das für eine Erklärung sein? Soll ich ihn vielleicht fragen?“
Warum nicht, wäre meine Maria damals Zeuge dieser Sache gewesen, sie hätte sicher gefragt.“
„Ich bin nicht wie ihre Maria.“
„Nein, das sind sie nicht. Sie sind eine moderne junge Frau, vielleicht haben sie sich schon sehr genaue Gedanken über ihre Zukunft gemacht und nun ist etwas passiert, was da nicht reinpasst.“
„Allerdings, ich wollte ihn mit der Nachricht, dass wir ein Baby bekommen, überraschen. Stattdessen sehe ich ihn mit einer Anderen, was soll ich da noch fragen?“
„Wollen sie denn ihr Glück so einfach aufgeben?“
„Er hat doch...“, weiter kam Liane nicht, da fiel ihr der Alte ins Wort: „Sie haben etwas beobachtet. Er hat keine Gelegenheit bekommen, etwas zu erklären, richtig?“
„Ja aber...“, stammelte Liane.
„Nichts aber, reden sie mit ihm, möglicherweise gibt es eine harmlose Erklärung und sie geben ihm nicht die Chance, alles gerade zu rücken. Es geht um ihr Glück und um das Baby.“
Liane sah ihn die ganze Zeit über an, schüttelte aber den Kopf bei seinen Worten. “Ich kann das nicht“, seufzte sie.
Der Alte sagte: „Sie haben doch sicher ein Handy, rufen sie ihn an.“

Zögernd nahm Liane das Smartphone aus ihrer Handtasche und erschrak, als sie 20 Anrufe bemerkte. Er hatte versucht, sie zu erreichen. Pah, sicher nur, um mir irgend etwas vorzulügen, dachte sie bei sich.
Was ist, warum rufen sie nicht an?“
Anstatt die Frage zu beantworten, sagte Liane: „Er hat es auch schon versucht. Sicher wundert er sich, das er mich nicht erreicht hat, schließlich wollten wir den Abend zusammen verbringen. Aber nachdem ich ihn mit der Frau gesehen hatte, hab ich mein Handy ausgeschaltet.
Und jetzt weiß er nicht einmal wo sie sind, er macht sich bestimmt große Sorgen“, sagte der alte Mann. Dann stand er plötzlich auf, machte sich am Bücherregal zu schaffen und wandte sich zur Zimmertür. „Ich hab ganz vergessen meinem Nachbarn noch ein wichtiges Buch zu bringen, bin gleich wieder zurück.“
Dann verließ er das Haus und Liane war allein in der Stube.

Gerade als sie die Nummer von ihrem Freund eintippen wollte, schrillte das Handy auch schon los. „Ja“, hauchte sie schüchtern in das Gerät.
Liane, mein Gott, wo steckst du ? Ich versuche dich seit heute früh zu erreichen. Was ist denn los, ist dir etwas passiert?“ Seine Stimme war laut und klang sehr aufgeregt. Sag doch was“, rief er.
„Ich, ich ... bin in Neuzelle. Ich habe dich gesehen, heute morgen. Du warst nicht allein und ich dachte...“
„Was dachtest du, und warum warst du hier ? Ich sollte doch zu dir kommen, wir wollten Heiligabend zusammen verbringen, schon vergessen?“, fragte er nun etwas ruhiger, „und was zum Teufel, machst du in Neuzelle?“
„Ich bin in den falschen Zug gestiegen, ich wollte nur noch schnell nach Hause. Und dann fuhr er nicht weiter, Endstation.“
Sie fühlte sich jetzt wie ein kleines, verlassenes Kind und fing an zu weinen.
Und nun“, fragte er am anderen Ende, „was soll jetzt werden?“
Liane blieb eine lange Weile stumm, dann fragte sie: „Wer war die Frau heute morgen, mit der du so eng umschlungen aus dem Haus kamst?“
Das war meine Schwester, ich hab dir doch von ihr erzählt. Sie ist Auslandsjournalistin und muss nach New York, da wollte sie sich verabschieden. Sie war zum Frühstück hier und musste gleich weiter zum Flughafen.“
„Aber ich ... ihr saht so verliebt aus … ich dachte ...“, Liane stammelte die Worte hervor.
„Aber Liebling, was erzählst du denn da, sie ist meine Schwester. Und ja, ich hab sie sehr gern, sie ist alles, was von meiner Familie übrig ist, das weißt du doch. Warum bist du nicht dazu gekommen, wenn du schon da warst. Und, sag mal, warum warst du eigentlich da?“, stutzte er jetzt.
„Liane, was ist los, sag mir bitte genau, wo du bist, ich hole dich ab“, jetzt klang seine Stimme sehr bestimmt.

In diesem Augenblick kam der Alte wieder zur Tür herein und schmunzelte. Nur zum Schein murmelte er: „Oh, ich will nicht stören.“ Aber Liane hatte das Handy in der Hand und starrte auf den Tisch.
Kurz entschlossen griff Bruno Reich danach und hielt es sich ans Ohr. Hallo, hier spricht Bruno Reich. Ihre Freundin ist hier bei mir, sie hat sich verletzt, aber es ist nicht sehr schlimm, vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung und eine Beule. Aber sie kann hier nicht bleiben, ich bin nicht auf Besuch eingerichtet. Können sie sie nicht holen?“
„Bitte sagen sie mir ihre Adresse, ich komme sofort“, rief der junge Mann ins Telefon.
„Das mache ich, mein Lieber. Aber vorsichtig fahren, es könnte glatt sein, hat ordentlich geschneit die letzten Stunden. Und ich nehme an, sie werden noch gebraucht“, sagte der Alte, sah zu Liane und lächelte. Die nickte heftig und wischte sich die Tränen fort, dann legte sie die Finger auf die Lippen, was heißen sollte, der Alte sollte nichts verraten. Und der verstand sofort und gab er ihr das Handy wieder zurück.
„Er macht sich unverzüglich auf den Weg, nun wird doch noch alles gut, oder?“
„Ich glaube ja. Ich war ganz schön dumm, was meinen sie?“
Der Alte kratze sich am Kinn.
Ach, das sind sicher die Hormone. Angehende Mütter sollen ja manchmal recht kompliziert sein“, grinste er.

ENDE


Über die Autorin:

Hund Emma von Julie Zimmermann

 Juli Zimmermann
lebt mit ihrer Hündin Emma in einer Kleinstadt in Brandenburg.

Schreiben und Lesen haben ihr Leben schon immer begleitet, nun getraut sie sich, mit diesem Beitrag im Autoren-Adventskalender eine ihrer Kurzgeschichten zu veröffentlichen.

In ihrer Freizeit kümmert sie sich liebevoll um ihren kleinen Schrebergarten, hat kürzlich ihre eigene Schreibgruppe gegründet und arbeitet aktuell an einem Roman mit historischem Hintergrund.

Aus einem bewegten Leben und dank ihren vielseitigen Interessen, findet sie so immer wieder neuen Stoff für spannende Geschichten.

 

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