Der Eierkampf
»Furchtbar, wie das hier wieder stinkt. Du solltest ein frisches Duftstäbchen rausstellen.«
Elvira hielt sich am Treppengeländer fest und blickte vorwurfsvoll und dabei keuchend zu ihrem Freund auf, der einen Absatz höher stand.
»Nun hör schon auf, so schlimm ist es nicht. Ich finde die Gerüche manchmal direkt interessant.«
Damit ging er weiter voraus und Elvira schleppte sich hinterher, zwei Etagen wollten noch erklommen werden.
Im Erdgeschoss des Hauses hatte Becca genau hören können, wer da gesprochen hatte. Nur hatte sie nicht alles verstanden, die deutsche Sprache machte ihr immer noch Schwierigkeiten. Sie besuchte zwar schon seit ein paar Wochen den Sprachkurs,
den freundliche Menschen im Dorf für neue Bewohner, wie sie eine war, gaben. Aber es dauerte doch eine Weile, bis auch Becca sich würde verständigen können.
Wenn sie die Wohnung verließ und traf dabei auf einen der Nachbarn, nickte sie immer freundlich, auch wenn der in keinster Weise darauf reagierte.
Im Dorf war das anders, da sagte schon mal der eine oder andere ein Hallo oder wünschte ihr einen guten Tag. Dann freute sich Becca ehrlich und erwiderte den Gruß.
Sie lebten noch nicht lange in diesem Dorf, in diesem Haus, Becca, ihre alte Mutter und die Töchter Djamilia und Mira. Davor lag ein langer Aufenthalt in einem Asylantenheim, einige Kilometer entfernt in der nächsten Stadt.
Mira war noch sehr klein, gerade erst zwei geworden, demnächst sollte sie in den Kindergarten kommen. Djamilia dagegen war zehn und ging in die Grundschule, sehr gern sogar, weil man dort freundlich und hilfsbereit war. Becca freute sich für ihr Mädchen,
umso trauriger machte sie die so offensichtliche Abneigung der Hausbewohner. Schließlich hatte sie sich nicht aussuchen können, wo sie mit ihrer kleinen Familie wohnen würde. Das hatten Behörden geregelt und sie war nur froh, aus dem Aufnahmelager in eine richtige Wohnung wechseln zu können.
Ihre Mutter ging so gut wie nie nach draußen, meist nur Sonntags, wenn alle in die Kirche gingen. Beccas Familie waren Christen, wie ein kleiner Prozentsatz der syrischen Bevölkerung. Ihr Glaube war ihnen wichtig und schon deshalb waren sie dankbar, das sie eine Chance auf eine gute Zukunft bekommen hatten.
Becca aber und die kleine Djamilia mussten und wollten unter Menschen gehen, es musste eingekauft werden, die Schule und der Sprachkurs waren ihnen wichtig und sie wollten so gern am Leben teilhaben.
Schon seit Tagen gab es einiges vorzubereiten, schließlich stand ein großes kirchliches Fest an. Ostern.
Becca hatte Kontakt zu einer Familie in der Heimat und diese schickten ihr all die guten Gewürze und andere Zutaten, die sie hier im Dorf leider nicht kaufen konnte,
damit sie diverse Köstlichkeiten, die sie von Zuhause kannte und sehr vermisste, zubereiten konnte.
Unermüdlich kochte und backte Becca, oft musste sie sich selber bremsen, damit es nicht zu viel wurde. Aber alle freuten sich so sehr auf das Fest. Und sie hatte sich vorgenommen allen, zu denen sie näheren Kontakt hatten, etwas von den leckeren Speisen abzugeben.
Becca hatte keine Ahnung, dass diese herrlichen Gerüche, die durch das ganze Haus zogen, ihre Nachbarn zornig machten. Nur am Ton, mit dem Elvira im Treppenhaus gesprochen hatte, konnte sie erkennen, das diese sich über irgendetwas ärgerte.
Der Ostersonntag war gekommen, ganz früh am Morgen hatte sich Beccas Familie auf den Weg zur Kirche gemacht. Am Abend davor hatte sie mit allen Eier gefärbt und bunt angemalt, hatte noch, als die Mädchen längst im Bett waren, an deren Kleidern genäht.
Denn das Osterfest war auch immer eine wunderbare Gelegenheit, die Familie neu, frühlingshaft, einzukleiden.
Becca nähte vieles selber, das hatte sie von ihrer Mutter gelernt und eine gebrauchte Nähmaschine hatte sie von der Pfarrersfamilie bekommen.
Für die Mädchen gab es wunderschöne Kleider aus Bergen von Tüllstoffen, wie kleine Prinzessinnen sahen sie darin aus. Für sich und die Mutter nähte Becca lange Kleider in gedeckteren Farben und schöne Tücher.
Es war noch ziemlich kalt am Morgen, so das Djamilia und ihre kleine Schwester sich breite, warme Schals umlegen mussten, um sich nicht zu erkälten.
Als sie so die Wohnung verließen, wurde gegenüber die Tür aufgerissen und der Nachbar trat heraus. Wild fuchtelte er mit den Armen und schimpfte laut vor sich hin. Becca und ihre Töchter und die alte Dame erschreckten sich ordentlich. Dass ihnen dieser Wutausbruch gelten musste, war ihnen klar,
denn der Mann kam ihnen sehr nahe und bedachte sie mit bösen Blicken, aber Becca und die Großmutter verstanden seine Worte nicht. Nur Djamilia konnte ein paar Worte verstehen. Aber sie wollte diese Ausdrücke nicht der Mutter verraten. Nun erschien hinter ihm auch noch seine Frau, die es ihm gleich tat und mit
hochrotem Kopf und einem Kochlöffel in der Hand, ebenfalls lautstark sprach.
Becca sah beide fassungslos an und beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen und ihre Lieben durch´s Treppenhaus und aus dem Haus zu schieben. Die jüngste Tochter hatte schon angefangen zu weinen, so sehr bekam sie es mit der Angst.
Auch Djamilia verstand nicht, was hier vor sich ging, sie nahm die Hand ihrer Schwester und sah zur Großmutter hin, die keine Miene verzogen hatte.
Sie fragte sie in ihrer Heimatsprache, was diese Menschen so wütend machte, aber die alte Frau gab keine Antwort.
Mit gesenkten Köpfen machten sie sich auf den Weg ins Dorf.
Die Kirche war gut gefüllt und wenn Becca und ihre Familie auch die Worte, die der Pastor sprach, nicht verstanden, so fühlten sie sich doch gut aufgehoben hier, unter den Menschen, die wie sie hierher gekommen waren.
Die Kirche war wunderschön, die Klänge der Orgel fanden ihren Weg direkt in die Herzen der Menschen und am Ende gingen alle froh nach Hause.
Die kleine syrische Familie hatte für eine kurze Zeit das Erlebnis vom Morgen vergessen, aber je näher sie ihrem Wohnhaus kamen, desto mehr wurde ihnen wieder bewusst, dass man sie anscheinend hier nicht haben wollte, dass sie irgendetwas an sich hatten, was die Nachbarn so ablehnend reagieren ließ.
Becca beschloss, gleich nachher bei den Leuten zu klingeln und ihnen mit einem Lächeln etwas von ihren Speisen zu schenken. Dann würden sie sich freuen und nicht mehr schimpfen.
Sie kamen auch tatsächlich unbehelligt durchs Treppenhaus, hörten aber aus dem Garten wildes Hundegebell.
Ab und zu kam bei den Nachbarn, die vorhin auf sie losgegangen waren, Besuch. Eine junge Frau und ein Mädchen, etwa in Djamilias Alter. Und einen Hund hatten sie auch meist dabei. Manchmal blieb das Mädchen mit dem Hund da und die Frau fuhr wieder weg. Manchmal blieb auch nur der Hund und den nahmen
die Nachbarn dann mit in den Garten.
Es war ein recht großer Garten, sogar ein paar alte, verrostete Spielgeräte gab es hier, eine Wippe, ein Schaukelgestell und einen kleinen Sandkasten. Allerdings wurden die Sachen wohl schon länger nicht mehr genutzt.
Djamilia und ihre kleine Schwester hatten sich allerdings noch nie gewagt, mal näher heran zu gehen, sie gingen nie in den Garten.
Meist waren dort nur die Nachbarn von gegenüber und die von oben.
Becca deckte den Tisch, trug all die Köstlichkeiten auf und rief die Familie zum gemeinsamen Essen.
Djamilia stand am Fenster und schaute in den Garten. Da flitzte der kleine Hund über die Wiese, sprang dem Nachbarn, der Abfall zu einem Komposthaufen trug, um die Beine und bellte dabei übermütig und laut. Dann konnte sie sehen, wie der Mann sein Handy aus der Hosentasche zog und telefonierte. Er machte kein freundliches Gesicht dabei und steckte das Handy bald wieder ein.
»Ob er eine schlechte Nachricht erhalten hat?«, dachte Djamilia bei sich. Jedenfalls stampfte er wieder zurück zu seinem Gartenstuhl, der unter einem Pavillion stand. Jetzt war auch seine Frau im Garten, setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und Djamilia konnte sehen, wie sich miteinander sprachen. Verstehen konnte sie freilich nichts, aber nun machte auch die Frau ein trauriges Gesicht.
Djamilia drehte sich weg vom Fenster und ging zur Wohnungstür, die sie leise öffnete und hinter sich wieder schloss.
Sie wusste selber nicht genau, was sie machen wollte und ihr Herz klopfte bis zum Hals, aber tapfer ging sie um das Haus herum, direkt in den Garten und auf die Nachbarsleute zu.
Beide starrten sie an, aber bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, schoss der kleine Hund unter dem Gartentisch hervor, sprang an Djamilia hoch und bellte und quietschte und war ganz außer sich. Die Nachbarn schauten mit offenen Mündern zu, wie der kleine Kerl da einen echten Freudentanz aufführte.
Dann ließ er von Djamilia ab und rannte den kleinen Hügel, der den Garten in zwei Ebenen teilte, hinauf und wieder herunter. Dabei bellte und quietschte er immer noch und konnte sich gar nicht beruhigen.
Djamilia hatte keine Erfahrung mit Hunden, aber sie hatte auch keine Angst und als er wieder an ihren Beinen hochsprang, getraute sie sich, eine Hand auszustrecken. Nun hielt er doch kurz still und das Mädchen streichelte ihn vorsichtig auf dem Kopf.
Djamilia schaute etwas unsicher in Richtung der beiden Menschen, die da unter ihrem Pavillon saßen und kein Wort heraus brachten. Sicher würden sie gleich wieder laut schreien und Djamilia vielleicht sogar aus dem Garten scheuchen. Aber dazu sollte es nicht kommen, denn nun hatte der Hund genug vom Stillhalten und Streicheln.
Er rannte wieder tief in den Garten und zurück.
Jetzt hatte sich der Nachbar scheinbar gefasst und kam bedrohlich nahe heran. Er hatte solch bösen Blick, dass es Djamilia ganz kalt wurde, aber noch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, kam der Hund angerannt und trug etwas im Maul.
»Paaaauuuul, aus ist das. Lass das sofort los!«
Djamilia hielt sich schnell die Ohren zu, so laut brüllte der Mann neben ihr nach dem Hund.
Der ließ sich allerdings nicht im geringsten beeindrucken und schoss wie ein Pfeil quer über das Grundstück, sein »Fundstück« fest zwischen den Zähnen. Für ihn war es ein herrliches Spiel und er dachte nicht im Traum daran, zu gehorchen.
Inzwischen hatte Becca, Djamilias Mutter, natürlich bemerkt, dass ihre Tochter die Wohnung heimlich verlassen hatte. Sie hatte den Lärm im Garten gehört, stand nun auch am Fenster und betrachtete sich das wilde Treiben dort draußen schmunzelnd.
Offenbar machte der Hund keine Anstalten, auf den Nachbarn zu hören. Aber was hatte er denn nun wirklich gefunden und wollte es nicht hergeben?
Jetzt kam der Hund auf Djamilia zu gerannt und sie wollte nach ihm greifen, der Nachbar war ja schon ganz fertig vom vielen Brüllen. Aber der kleine Kerl war viel zu flink und machte sich geschickt wieder frei, als sie ihn schon fast am Halsband hatte.
Die Frau des Nachbarn saß gänzlich bewegungslos in ihrem Gartenstuhl, sie vergrub das Gesicht in ihren Händen und jammerte laut vor sich hin. Ihr Mann ging zu ihr und stand dann hilflos da.
»Mach was … die schönen Ostereier, der macht doch alles kaputt!«, fauchte sie ihn an.
Derweil hatte sich Djamilia entschlossen, dem Hund ganz langsam hinterher zu gehen, nur schrittweise, nur nicht zu schnell, sonst lief er eh wieder davon.
Und wirklich kam der etwas zur Ruhe, setzte sich schließlich auf die kleinen Schenkel und japste mit hängender Zunge ordentlich nach Luft. Seine Beute legte er vor sich ins Gras, passte aber auf, dass Djamilia ihm nicht zu nahe kam.
Jetzt konnte sie auch sehen, was er da so besonderes bewachte. Es war ein Ei, bunt gefärbt, die Schale schon arg ramponiert.
Sie musste grinsen und verstand. Die Nachbarn hatten offensichtlich Ostereier im Garten versteckt. Und Paul, der kleine Racker, hatte eines gefunden.
Djamilia wusste, das es ein Brauch in Deutschland war, Ostereier zu verstecken, das hatte sie in der Schule gelernt. Kinder durften sie dann suchen und behalten. Meist waren es Eier aus Schokolade oder süßem Zuckerzeug, aber manchmal auch richtige Eier, hart gekocht und gefärbt.
Vorsichtig kam sie dem Hund näher und setzte sich zu ihm.
Als er einmal kurz unaufmerksam war und sich hinter dem Ohr kratzte, konnte Djamilia schnell das Ei greifen. Sie hielt es in die Höhe, damit der Nachbar es sehen konnte.
»Haben sie noch mehr davon versteckt?«, rief sie hinüber.
»Ja sicher, unsere Enkelin sollte doch heute kommen. Aber die Tochter hat abgesagt.«
Sofort verdunkelte sich wieder sein Blick und er fügte hinzu: »Wüsste nicht, was dich das angeht.«
Djamilia hatte genug von dem alten Griesgram, sie drehte auf dem Absatz um und wollte zurück ins Haus gehen. Plötzlich war der Hund wieder da, sprang um sie herum und hatte ein neues Ei in der Schnauze.
Der Nachbar brüllte: »Paul, sofort machst du aus, aus sag ich!«
Aber Paul dachte nicht daran, er fegte wie ein Derwisch über das Gartengrundstück und der Mann versuchte, ihn einzuholen.
»So wird das nichts«, dachte Djamilia und zögerte kurz. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und rief dem Nachbarn zu: »Haben sie vielleicht etwas da, was der Hund gerne mag, also mehr als die Eier?«
»Was meinst du?«, knurrte der zurück.
»Na, ein Leckerchen oder so, dann lässt er vielleicht die Eier in Ruhe.«
»Muss ich mal nachsehen«, brummte er sich in seinen nicht vorhandenen Bart.
Inzwischen war auch Becca nach draußen gekommen. Sie hatte vom Fenster aus gesehen, dass die Frau des Nachbarn bitterlich weinte und wollte schauen, ob sie helfen konnte. Sie ging zu ihr unter den Pavillon und sprach leise: »Nicht weinen, kann ich etwas tun?«
Die Nachbarin reagierte nicht, heulte nur noch lauter.
Becca sah zu Djamilia hinüber, die sah den Nachbarn an, der eine Tüte Hundekuchen aus der Wohnung geholt hatte und Paul lag der Länge nach im Gras.
Schnell griff Djamilia nach dem zweiten Ei, welches der Hund gefunden hatte und brachte es der Nachbarin.
Es war noch nicht ganz so ramponiert wie das erste, dennoch knallte die Frau es wütend auf den Tisch.
»Ich kann ihnen helfen die anderen Eier einzusammeln, damit nicht noch mehr kaputt geht«, bot sie dem Mann an.
Der sah zu seiner Frau hinüber und nickte dann wortlos.
Dann stapfte er los und Djamilia hinter her. Der Hund sprang sofort auf und wuselte um sie herum, aber Djamilia lenkte ihn mit den Leckerlis ab.
Becca war indessen wieder in ihre Wohnung zurück gekehrt und hatte auf einem Teller ein paar ihrer schönsten Gebäckstücke drapiert. Nun kam sie zurück und stellte den Teller wortlos auf den Gartentisch unterm Pavillon.
Mit einer Handbewegung forderte sie die Nachbarin auf, zu zugreifen. Die schneuzte kräftig in ihr Taschentuch und senkte den Blick.
Djamilia und der Nachbar kamen gerade dazu, alle Hände voller Osternester und gekochten Eiern.
Paul hatte keines mehr erwischt.
Die Nachbarsleute sahen sich verlegen an, danke sagen wollten sie anscheinend nicht.
Da griff sich Becca eines der harten Eier, reichte es ihrer Tochter und nahm ein zweites in die Hand.
Schwungvoll stießen beide zusammen, das die zarten Schalen nur so krachten.
»Gewonnen!«, juchte Djamilia, denn ihr Ei hatte kaum etwas abbekommen, das der Mutter allerdings schon.
Becca sah zu den beiden Menschen, die da so verstimmt in ihren Gartenstühlen saßen und sagte: »Frohe Ostern, so feiert man bei uns in Syrien. Wir sind nämlich keine Monster, sondern Christen wie ihr.«